Amoklauf in einer Schule

"In neunzehn Minuten kann man den Rasen vor dem Haus mähen, sich die Haare färben, Brötchen backen, sich vom Zahnarzt eine Füllung machen lassen oder die Wäsche für eine fünfköpfige Familie zusammenlegen." So beginnt Jodi Picoults eindrucksvoller Roman "19 Minuten".
Aber Romanfigur Peter Houghton tut etwas anderes. Der 17-Jährige stürmt bewaffnet seine Schule in der amerikanischen Kleinstadt Sterling und tötet zehn Mitschüler. Während ihm der Prozess gemacht wird, fangen viele in der Stadt an, über die Hintergründe der Tat nachzudenken. Es gibt immer wieder Rückblenden, und der Leser sieht den Amoklauf aus völlig verschiedenen Perspektiven heraufziehen: der des ermittelnden Polizisten, der prozessführenden Richterin, des Attentäters selbst und aus dem Blickwinkel seiner verzweifelten Mutter, einer bis dahin vollkommen unauffälligen Hebamme.

Auf eine plausible Aussage einer Schulfreundin von Peter muss indessen nicht nur die gesamte Öffentlichkeit, sondern auch der Leser des Romans lange Zeit warten. Denn obwohl sich Josie Cormier, die Tochter der Richterin, mitten im Kugelhagel befunden hat, ist sie – wie durch ein Wunder – körperlich unverletzt geblieben. Doch Josie kann sich an nichts erinnern...

Jodi Picoult hat einen einfühlsamen Roman über ein Thema geschrieben, das seit 1999, dem Massaker an der Columbine High School in den USA, und spätestens seit 2003, dem Amoklauf eines Schülers am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, auch in Deutschland kontrovers diskutiert wird: die Beweggründe jugendlicher Amokläufer, die binnen weniger Minuten das Leben nicht nur in ihrer Umgebung auf den Kopf stellen. In der Sprache typisch amerikanisch – kurze, prägnante Sätze, fast im Stil einer Reportage und viele Dialoge, fast wie in einem Drehbuch – ist der Autorin ein äußerst sensibles Buch gelungen, das sich glücklicherweise vor Standard-Antworten hütet.

Die Beweggründe des Attentäters Peter Houghton macht Jodi Picoult weder an dessen Kindheit fest – er wurde als kleiner Junge ständig gehänselt –, noch hat sie einen Killer kreiert, dem irgendwann die Computer-Spiele zu langweilig wurden und der nun auf grausame Art Anerkennung sucht. Anders als in Michael Moores Dokumentarfilm "Bowling for Columbine" sucht die Autorin die Schuldigen auch nicht in der amerikanischen Waffenlobby.

Jodi Picoult geht in ihrer schriftstellerischen Analyse viel tiefer: Sie fächert den Lebensweg eines Menschen auf, bei dem man über viele Jahre hinweg kleine und kleinste Anzeichen hätte bemerken können, die schließlich zu dem furchtbaren Massaker geführt haben. Das wiederum muss den Leser aufrütteln, denn im Vorfeld hätte wohl niemand diese Anzeichen richtig zu deuten gewusst. Entstanden ist nicht nur das Psychogramm eines Menschen, sondern das erschütternde Bild einer Gesellschaft, die Probleme leider erst dann zu erkennen bereit ist, wenn sich die Katastrophe schon ereignet hat.

"19 Minuten" stand in Amerika wochenlang auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste, und das vollkommen zu Recht.

Rezensiert von Roland Krüger

Jodi Picoult: 19 Minuten,
Roman, Piper Verlag 2008, 476 Seiten, 19,90 Euro
aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann