Amnestie in Russland

Putin will Chodorkowski begnadigen

19.12.2013
Die beiden Punk-Aktivistinnen von "Pussy Riot" sollen freikommen. Auch den Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski, der seit zehn Jahren in Haft sitzt, will der russische Präsident Putin begnadigen. Damit habe niemand gerechnet, sagt Jens Siegert, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau.
Christine Watty: Man könnte es lapidar als Präsident in Weihnachtsstimmung bezeichnen, was sich da in Russland tut. Präsident Putin lässt einige Gegner frei, so hat er es angekündigt; die Punk-Aktionistinnen von Pussy Riot sollen bald auf freiem Fuß sein, auch 30 Greenpeace-Mitglieder und, das ist brandaktuell und mit Sicherheit der größte Coup: Michail Chodorkowski soll auf freien Fuß kommen.
Der Putin-Gegner war im Jahr 2003 festgenommen worden und zwei Jahre später wegen Betruges und Steuerhinterziehung verurteilt worden. Anfang Dezember hatte man noch darüber spekuliert, ob ihn weitere Verfahren erwarten würden anstelle der Freilassung im kommenden Jahr. Jetzt also soll er begnadigt worden sein, unabhängig von der Massenamnestie, die für die Greenpeace-Mitglieder und die Pussy-Riot-Frauen gilt. Wir sprechen darüber mit dem Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau, mit Jens Siegert. Hallo, Herr Siegert!
Jens Siegert: Hallo!
Watty: Diese Ankündigung Putins, die kam ziemlich überraschend, nehme ich an.
Siegert: Ja, damit hat, glaube ich, niemand gerechnet, nachdem die Amnestie ja schon heute in Kraft getreten ist. Und deswegen sind jetzt alle erst mal auf falschem Fuß erwischt.
Watty: Glauben Sie denn daran, dass Michail Chodorkowski wirklich freikommen wird?
Siegert: Wenn er ein Gnadengesuch tatsächlich an Putin gerichtet hat, dann sieht es jetzt so aus. Warum sollte Putin sagen, er wolle so ein Gnadengesuch gutheißen und unterschreiben, wenn er das nicht will?
Chodorkowskis Mutter soll schwer krank sein
Watty: Das ist aber mit dem Gnadengesuch ja so eine Sache, denn es gibt diese Meldung, eben dass er jetzt erstmals ein Gnadengesuch gestellt haben sollte, dem wiederum widerspricht ja der Anwalt von Chodorkowski.
Siegert: Ja, Vadim Klyuvgant, das ist der Leiter des Anwaltsteams von Chodorkowski, hat gesagt, ihm sei davon nichts bekannt. Und bisher ist es auch immer so gewesen, dass Chodorkowski argumentiert hat, ich habe keine Schuld, also kann ich auch nicht um Gnade bitten. Ich will freigesprochen werden.
Watty: Das heißt also – es ist wahrscheinlich ein bisschen schwierig und auch noch ein bisschen spekulativ, aber gehen Sie davon aus, dass Chodorkowski eher in einem neuen Verfahren verurteilt wird, wie man es eben auch Anfang Dezember schon munkeln hörte, als dass er jetzt wirklich auf freien Fuß gesetzt wird?
Siegert: Das hat ja erst mal nichts miteinander zu tun. Wenn er begnadigt wird, dann wird er für die Zeit begnadigt, für die er jetzt rechtmäßig, also nach einem rechtmäßigen Urteil schon im Gefängnis sitzt. Ein neues Verfahren wäre ein neues Verfahren. Das hängt mit dieser Begnadigung überhaupt nicht zusammen.
Die Frage ist eben nur, gibt es dieses Gnadengesuch und wird er dann begnadigt. Eine Sache könnte es tatsächlich sein, die Chodorkowski umgestimmt hat, und davon wird auch schon in der Presse berichtet: Seine Mutter ist sehr schwer krank, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie in Kürze stirbt. Und um sie noch einmal in Freiheit wiederzusehen, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass er sich nun doch anders entschieden hat und das Gnadengesuch gestellt hat.
Watty: Dann muss ich natürlich meine eben gestellte Frage noch mal anders formulieren. Das heißt, nehmen wir mal an, dieses Gnadengesuch wurde wirklich gestellt und er kommt auf freien Fuß – wie groß schätzen Sie denn die Chance ein, dass er danach tatsächlich in einem weiteren Verfahren einfach wieder verurteilt und wieder ins Gefängnis gesteckt wird?
Siegert: Das ist sehr schwer einzuschätzen, weil das letztlich von der Entscheidung eines Menschen abhängt, nämlich des Menschen, der jetzt gesagt hat, er will ihn begnadigen. Ich denke, dass das dann auch damit zusammenhängen wird, wie sich Chodorkowski benehmen wird, was er dann machen wird. Er selbst, Chodorkowski, hat gesagt, er will nicht in die Politik gehen, sondern er will sich gesellschaftlich engagieren, und das könnte etwas sein, was Putin durchaus akzeptabel findet.
Watty: Warum stellt denn Putin diese mögliche Begnadigung überhaupt in Aussicht? Was könnten dafür die Hintergründe sein?
Zusammenhang mit den Olympischen Spielen in Sotschi
Siegert: Einer der Hintergründe sind sicherlich die kommenden Olympischen Spiele in Sotschi. Da gibt es sehr, sehr viel Aufmerksamkeit, da gibt es auch die Ankündigung schon, dass Leute sich unter anderem für die Freilassung von Chodorkowski einsetzen werden. Mit der Anti-Schwulen- und Anti-Lesben-Gesetzgebung, die wir hier haben, gibt es ja noch einen anderen Punkt, der sehr stark in der internationalen Kritik ist. Da sollen sicherlich die Fronten ein bisschen begradigt werden.
Watty: Diese Ankündigung, Chodorkowski freizulassen, die lief unabhängig vom Amnestiegesetz des Präsidenten, das eben, wie Sie auch schon gesagt haben, heute in Kraft getreten ist. Unter diese Amnestie fallen auch die beiden Mitglieder von Pussy Riot, die wegen ihres Punkgebets in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Haft sitzen. Jetzt hat man, glaube ich, ein halbes Jahr Zeit, diese Amnestie umzusetzen beziehungsweise die Freilassung dann auch wirklich durchzuführen. Wann werden denn die Frauen aus dem Gefängnis kommen?
Siegert: Da stellen Sie die Frage an die falsche Person. Das muss man die zuständigen Justizbehörden und die zuständigen Staatsanwälte fragen, denn die müssen das machen. Laut diesem Gesetz muss jeder einzelne Fall individuell betrachtet werden und bei jedem einzelnen Fall müssen die Justizbehörden zu dem Schluss kommen, ja, diese Person fällt unter das Amnestiegesetz und wird dann amnestiert. Wie schnell dort die russische Bürokratie arbeiten wird, das kann ich nicht voraussagen.
Watty: Das Gleiche, nehme ich an, wird dann auch für die Greenpeace-Aktivisten gelten …
Siegert: Bei denen ist das, wenn ich Sie kurz unterbrechen darf, ein bisschen anders, weil die sind ja auf freiem Fuß. Bei denen geht es darum, ob sie das Land verlassen können oder ob sie das Land nicht verlassen können. Insofern ist die Frage da zwar auch dringend, aber vielleicht ein bisschen anders dringend als bei den beiden Pussy-Riot-Frauen.
Watty: Gibt es schon Reaktionen in Russland selbst, auf diese Ankündigung Putins, jetzt eben einige seiner Gegner freilassen beziehungsweise ausreisen lassen zu wollen?
Siegert: Noch keine größeren außer eben den überraschten Reaktionen, über die wir ja auch geredet haben, dass wir auch auf falschem Fuß erwischt worden sind.
Watty: Danke schön an Jens Siegert, der Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau. Alles Gute nach Moskau und Ihnen noch einen schönen Tag!
Siegert: Danke schön, Ihnen auch!
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