Amerikas Ruinenstadt Camden

Von Beatrice Ürlings |
Camden im US-Bundesstaat New Jersey war viele Jahrzehnte lang ein wichtiger Industriestandort. Heute ist es eine der ärmsten Städte der Vereinigten Staaten. Das Sozialsystem ist demoliert, die Polizei völlig überfordert.
Philadelphia ist die Geburtsstätte der Vereinigten Staaten. Unweit des Delaware River unterzeichneten die Gründerväter 1787 die amerikanische Verfassung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses liegt Camden – eine Stadt, die die Probleme des modernen Amerikas symbolisiert. In Camden schlug viele Jahrzehnte lang das Herz der US-Industrie. Doch die Fabriken sind weggezogen. Heute dominieren Schrotthändler das Landschaftsbild.

Auf dem Firmengelände von Fanelle’s Sons türmt sich ein acht Meter hoher Haufen aus Abflussrohren, Waschmaschinentrommeln und anderem Altmetall. Die Einwohner von Camden liefern den Schrott in zerbeulten Kleinlastern an. Firmenchef Brian Rogalski kauft, was er kriegen kann.

Brian Rogalski: „Camden ist eine vergessene Stadt. Die Leute sind so verzweifelt, dass sie in die verlassenen Häuser und Fabriken gehen und dort alles rausholen, was sie verscherbeln können. Aber natürlich gibt es immer weniger zu holen. Zuletzt hatten wir diesen Mann, der auf der Suche nach Kupfer einen Strommast hochgeklettert ist und die Leitung durchgeschnitten hat. Er war auf der Stelle tot.“

Brian Rogaliski sitzt hinter einer dicken Plexiglasscheibe in der Warenannahmestelle und gibt Anweisungen. Draußen vor dem Fenster liegt die Ferry Avenue, die einer Wirklichkeit gewordenen Endzeit-Vision gleicht. Keiner bleibt freiwillig in Camden. Auch Rogalski ist längst weggezogen. Nach getaner Arbeit verschwindet er so schnell wie möglich ins beschaulichere Umland.

Brian Rogalski: „In all den Gebäuden da draußen waren mal Firmen, jetzt zerfällt alles. Ich rate jedem davon ab, nachts in Camden herumzufahren. Auch tagsüber musst du auf der Hut sein: Gestern hat die Polizei gleich hier ums Eck eine Drogenbande auffliegen lassen; vor einem Monat hatten wir eine Schießerei auf offenere Straße.“

Vom Vorzeigestandort zur Ruinenstadt: In Camden residierte neben vielen anderen Fabriken einst auch das Platten-Label von Elvis Presley. Heute ist fast jeder zweite der insgesamt 70.000 Einwohner arbeitslos. Die Stadt verkörpere die Tragik eines Amerikas, das seine Industrien ins Ausland verlagert und nichts mehr selber herstellt, sagt Chris Hedges, der für sein Buch „The Death of the Liberal Class“ monatelang in Camden recherchiert hat.

Chris Hedges: „In Camden leiden die Menschen ganz besonders, aber die landesweiten Statistiken sind ebenfalls niederschmetternd. Diese Vorstellung, dass das Wundermittel der Globalisierung die Zerstörung unserer Produktionsstandorte auffängt, funktioniert nicht. Jeder achte Erwachsene und jedes vierte Kind in diesem Land ist auf Essensmarken angewiesen. 40 Millionen US-Bürger leben unter der Armutsgrenze.“

Pastor Michael Doyle steht am Broadway von Camden und rezitiert den Poeten Walt Whitman. „In meinem Traum sah ich eine Stadt, unbesiegbar gegen die Attacken aus dem Rest der Welt“ – mit diesem Vers beginnt Whitmans Gedicht. Die Realität fühlt sich anders an. Doyle wurde 1968 nach Camden strafversetzt. Der Pastor hatte aus Protest gegen den Vietnamkrieg Einzugsdokumente des Militärs gestohlen – eine Tat, auf die er bis heute stolz ist.

Michael Doyle: „Meine Mitstreiter und ich wollten nicht länger tatenlos zusehen, wie die Armee in die Häuser der Leute ging und vor allem armen Eltern die Söhne wegnahm. Es ging uns um diese Ungerechtigkeit den Armen gegenüber, diese Ungerechtigkeit, die immer noch dieselbe ist.“

Doyle hat aus seiner Strafversetzung eine Berufung gemacht. Seine Kongregation, die Sacred Heart Church, betreibt neben einer Suppenküche auch eine kleine Grundschule. Immer wieder erzählt Doyle davon, wie ein Junge ihm nach den Terroranschlägen vom 11. September sagte, er fühle sich sicher in Camden. Auf die Frage „Warum?“ antwortete das Kind: „Weil die Terroristen, wenn sie hier rüberfliegen, denken, dass sie ihren Mission schon vollbracht haben“.

Michael Doyle: „Es gibt nicht wenige Leute meines Alters, die sagen: ‚Ja, wir waren arm, aber wir wussten es nicht.‘ Das ist der Unterschied. Heute weißt du es. Das Fernsehen führt dir jeden Tag vor Augen, was du haben könntest und nicht hast. Wenn du jung bist, dann macht dich das rasend. Es ist eine furchtbare Zeit, um arm zu sein, weil du weißt, dass du arm bist.“

Die Interstate 676 ist die Hauptverkehrsader von Camden. Rechts und links der Autobahn gehen aschgraue Sumpfgebiete in den Himmel über. Die „Backwoods“ sind auf keiner Karte eingezeichnet. Zwei Dutzend Obdachlose haben sich in dieser Senke niedergelassen. Sie wohnen in Zelten ohne Strom und Kanalisation. Lorenzo Banks, der sich „Jamaica“ nennt, ist schon seit dreieinhalb Jahren im Camp.

Lorenzo „Jamaica“ Banks: „Ich habe mein Leben lang gearbeitet. Ich bin gelernter Koch, ich habe fürs Militär gekocht, für Restaurants und zuletzt für den Rüstungskonzern Lockheed Martin. Als ich dort entlassen wurde, hat man mir noch ein knappes Jahr Arbeitslosengeld gezahlt. Dann gab’s gar nichts mehr. Ich habe jetzt Sozialhilfe beantragt, aber die Behörden rühren sich nicht.“

Ein eisiger Westwind zieht über Camden hinweg. Die Obdachlosen sitzen um ein Lagerfeuer und träumen von einer besseren Zukunft. Jamaika nimmt seine Lebensgefährtin in den Arm. Der Afroamerikaner will nichts wie weg von der Straße. Einstweilen tröstet er sich damit, wenigstens so etwas wie der inoffizielle Bürgermeister der Zeltstadt zu sein.

Lorenzo „Jamaica“ Banks: „Es ist sicher hier, denn wir halten abwechselnd Wache. Ich patrouilliere selber jede Nacht von 4 bis 5 Uhr. Ich sorge auch dafür, dass alles sauber und ordentlich bleibt. Im Moment sieht unser Camp ein bisschen chaotisch aus, weil Winter war und weil wir einen Sturm hatten. Amerika ist das reichste Land der Welt – aber schau dich um, so etwas wir uns dürfte es hier nicht geben.“

Jeder zehnte Mensch in Camden lebt auf der Straße. Barak Obama hat deren Misere mit eigenen Augen gesehen. Er kam während seines Wahlkampfes gleich mehrmals in die Elendsstadt und versprach Hilfe. Gesehen haben die Einwohner davon nichts. Camden steht für ein Amerika, das außer Mutmachparolen nicht mehr viel zu bieten hat, meint Buchautor Chris Hedges.

Chris Hedges: „Wir Amerikaner lassen uns von kraftvollen Propagandaformen einlullen. Das neue Job-Gesetz aus Washington gibt vor, Arbeitsplätze schaffen zu wollen – tatsächlich beinhaltet es Steuererleichterungen über 15 Milliarden Dollar für die großen Konzerne. Die Gesundheitsreform ist nicht besser: Immer noch ist ein Drittel von jedem Dollar, der für die Pflege in diesem Land ausgegeben wird, reiner Unternehmensgewinn.“

Armut sorgt auch für Kriminalität: Camden ist die zweitgefährlichste Stadt der USA. John Williamson kennt die Gesichter hinter der Statistik. Der Polizist hat nicht viel Zeit, die Arbeit ruft. Das Funkgerät auf seinem Schreibtisch gibt einen Zwischenfall nach dem anderen durch. An einem normalen Vormittag nehmen Williamson und seine Kollegen mindestens zwei Dutzend Straftäter fest.

John Williamson: „Jede Art des Verbrechens, die du dir vorstellen kannst, gibt es hier. Die Leute aus den Vororten kommen nach Camden, um Drogen zu kaufen, auch viele Leichen werden hier entsorgt. Ich bin selber woanders aufgewachsen, aber ich wollte in dieser Stadt arbeiten, weil ich glaube, dass ich hier etwas bewirken kann.“

Hehre Ideale, gefährlicher Alltag: Die Polizisten von Camden sorgen sich auch mehr denn je um ihre eigene Sicherheit. Ihre Stadt steckt so tief in den Miesen, dass Entlassungen zur Tagesordnung gehören. Von den einst 400 Gesetzeshütern sind nur noch 200 übrig. Williamson und seine Kollegen sind überfordert. Jetzt rücken ihre Einsatzwagen nur noch bei akuter Gefahr für Leib und Leben aus.

John Williamson: „Wir gehen auf dem Zahnfleisch, wir können nicht mehr die Arbeit zu machen, die von uns erwartet wird. Wenn du in Camden einen Autounfall hast und keiner verletzt wird, dann kommt die Polizei nicht. Wenn jemand dein Haus ausraubt, dann kommt die Polizei nicht. Wir reagieren nur noch auf Gewaltverbrechen: Schießereien, Morde, sexuelle Übergriffe und dergleichen.“

Proteste gehören vor dem Gemeindehaus von Camden zur Tagesordnung. Die Stadt weist dieses Jahr schon wieder ein Defizit von 26 Millionen Dollar aus. Es fehlt ihr nicht nur an Steuereinnahmen. Auch der Bundesstaat New Jersey, zu dem Camden gehört, schießt keine Hilfsgelder mehr bei. Zu gigantisch ist das eigene Haushaltsloch. New Jersey ist kein Einzelfall. Insgesamt fehlen in den US-bundesstaatlichen Kassen 125 Milliarden Dollar. Da hilft nur noch sparen, sparen, sparen, seufzt Scott Pattison, Direktor vom Berufsverband der US-Haushaltsfunktionäre.

Scott Pattison: „"Camden ist ein extremes Beispiel für die schmerzhaften Kürzungen überall in den Vereinigten Staaten. Arizona hat zum Beispiel verlauten lassen, dass das staatliche Gesundheitssystem für Senioren und Bedürftige keine Transplantationen mehr zahlen wird. Auch auf dem Gebiet der Erziehung liegt vieles im Argen. Selbst Bundesstaaten wie Louisiana, die in dieser Hinsicht immer sehr großzügig waren, frieren ihre Budgets ein.“

Aber es gibt auch Lichtblicke in der Stadt. Campbell’s ist ein global operierender Lebensmittelkonzern und der letzte noch verbleibende, große Wirtschaftsträger in Camden. Das Management hat sich nicht nur entschlossen zu bleiben, sondern investiert auch in den Standort. Anthony Sanzio sitzt in dem futuristisch anmutenden Konferenzraum seines Arbeitgebers. Der Pressesprecher spricht von Sozialverantwortung und vielversprechenden Kooperationsinitiativen.

Anthony Sanzio: „Camden braucht uns, wir sind der größte Steuerzahler hier. Wir haben eine Partnerschaft mit der Stadt abgeschlossen. Campbell’s hat 93 Millionen Dollar für den Bau dieser neuen Zentrale ausgegeben und das Land ums Firmengelände herum saniert. Die Stadt hat im Gegenzug 23 Millionen Dollar bereitgestellt, um die angrenzen Straßen zu reparieren. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam, Camden auch für andere Unternehmen wieder attraktiv zu machen.“

Sanzio zeigt auf ein Originalbild von Andy Warhol: Die Popart-Legende machte die Suppendosen seines Arbeitgebers in den 60er-Jahren zum Kunstmotiv. Ironischerweise begann Campbell‘s jedoch just in dieser Zeit, die Produktion auszulagern. Der Konzern hat heute nur noch seinen Verwaltungssitz in Camden. Das ist insofern problematisch, weil die meisten Stadtbewohner nicht qualifiziert genug sind, um dort arbeiten zu können. Zwei Drittel der Kinder hier brechen die Schule frühzeitig ab, seufzt Anthony Sanzio.

Anthony Sanzio: „Wir versuchen, das Bildungsniveau zu verbessern. Unsere Mitarbeiter verrichten jedes Jahr 16.000 Stunden Freiwilligenarbeit. Jede Woche empfangen wir bis zu 75 Schuldkinder, denen wir Nachhilfeunterricht in Lesen und dergleichen geben. Wir glauben, dass Camden seine Probleme überwinden kann, wenn Stadt und Privatwirtschaft zusammenarbeiten. Aber so etwas geht natürlich nicht von heute auf morgen.“

Anthony Sanzio und seine Kollegen träumen von einer heilen Welt, wie sie in den Werbespots von Campbell‘s vermittelt wird. Und ihre Träume geben der Stadt Hoffnung. Camden könnte aller Misere zum Trotz für ein Amerika stehen, wo der Umdenkungsprozess seit jeher von unten beginnt. Ein Amerika, in dem nicht die Politik, sondern die Menschen das Korrektiv sind.

Theaterabend im winzigen South Camden Theater. Das Drama „The Last Rites“ handelt von einer Familie, die eine Bar im Camden der 60er-Jahre betreibt. Mit den Fabrikschließungen wird der Alkohol zur Krücke, die Nachbarschaft bricht auseinander. Für Theaterdirektor Joseph Paprzycki ist jede Inszenierung Kindheitserinnerung, aber auch die Erfüllung eines Lebenstraumes.

Joseph M. Paprzycki: „Das Ende von ‚The Last Rites‘ ist tragisch. Es ist die Geschichte von Camden. Aber alles hat zwei Seiten, denn das Theater, in dem wir sitzen, das war einst die Bar meines Großvaters. Ich habe das Gebäude mit Spenden gekauft und renoviert. Ich hoffe, dass ich durch meine Gegenwart hier andere dazu ermutigen kann, ebenfalls etwas aufzubauen.“

Die South Camden Theater Company ist das erste Theater in Camden seit mehr als 100 Jahren. Vor jeder Aufführung organisiert Paprzycki eine Diskussionsrunde. Die Leute kommen in Scharen, und das ist dem Regisseur mehr wert als jeder Großstadterfolg. Paprzycki hat an den besten Theaterhäusern der USA gearbeitet. Aber erst in Camden fand er die Bretter, die für ihn im wahrsten Sinne des Wortes: die Welt bedeuten.

Joseph M. Paprzycki: „Wir geben für jede Aufführung 30 Tickets gratis an die Anwohner. Die Frauen kommen in ihren besten Kleidern zufuß hierher, das ist ein unbeschreibliches Gefühl. Es ist nicht so, dass andere nicht versucht hätten, etwas Neues zu schaffen. Sie haben ein großes Aquarium am Stadtrand gebaut, aber die Leute, die dort hingehen, trauen sich nicht hierher. Vielleicht ändert sich das, jetzt, wo unsere Viertel wieder lebhaft wird.“

Paprzycki kommt nicht nur nach Camden, um dort als Hoffnungsträger gefeiert zu werden. Der Regisseur lebt auch in der Stadt. Seine Nachhausweg ist immer derselbe, entlang des Delaware River. Auf der gegenüberliegenden Uferseite glitzert die Abendsonne über der Skyline von Philadelphia. Der Spitzname der US-Geburtsstädte lautet: „Die Stadt, die deine Liebe erwidert“. Die Nachbarn in Camden könnten sie brauchen.