Amerikanischer Realismus pur in Wien

Von Ulrich Fischer · 05.11.2010
Das Nature Theater of Oklahoma kommt aus New York und gehört zu den Off-off-Broadway Bühnen. Seinen Namen hat es Kafkas Romanfragment "Amerika" (eigentlich "Der Verschollene") entliehen. Unter den Fittichen des Burgtheaters Wien entwickelt es ein groß angelegtes Projekt unter dem Titel "Life and Times". Kristin Worrall, 34, erzählt am Telefon ihr Leben. Ihr Bericht wurde aufgezeichnet und wortgetreu zur Grundlage eines Zehnteilers. Das Theatertreffen lud den Auftakt in diesem Jahr nach Berlin ein – eine schöne Anerkennung für eine junge Truppe.
Am Freitag wurde die zweite Episode im Kasino uraufgeführt, einer Nebenspielstätte des Burgtheaters. Sie umfasst Kristins Leben von acht bis vierzehn. Dabei ist nicht nur interessant, was erzählt wird, sondern auch wie.

Kristin war anfangs eine gute Schülerin. Wichtiger als der Stundenplan wird die Sozialisation: Kristin ist ein typisch amerikanisches Schulmädchen, sie möchte Anerkennung und passt sich an, ja, sie ist gefallsüchtig. Die 34-Jährige berichtet, wie sie als junges Mädchen versuchte, die Anerkennung ihrer Mitschüler und ihrer Lehrer zu gewinnen. Wichtig sind die Klamotten – sie entscheiden über den Status. Wichtiger noch ist Einordnung, Unterordnung.

Als Kristin statt in den erwünschten Winner-Kreis zu kommen bei den Losern landet, ist sie todunglücklich. Sie gehört offenbar zur großen Mehrheit der Angepassten, ihre Schwester, ein "bad girl", zur kleinen Minderheit jener, die nicht einverstanden sind, aufbegehren.

Die Erzählerin lässt, obwohl sie ja Jahrzehnte voller Erfahrung von ihrer Kindheit und Jugend trennen, eine kritische Haltung vermissen. Sie ist naiv wie als Kind und bemerkt nicht, wie der Anpassungsdruck sie modelliert und zu ihrer Entfremdung, ihrem Unglück, beigetragen hat. Der Zuschauer ist klüger als die Protagonistin, Ironie, Komik grundiert die Erzählung. Wie es möglich ist, dass Kristin, intelligent, mit klarem Blick, nie durchschaut hat, dass ihre durch und durch konventionelle Sicht auf die Verhältnisse, ihr Wunsch, im Strom mit zu schwimmen, eine Hauptursache für ihr Leiden ist.
Kelly Copper und Pavol Liska haben das Telefongespräch, das sie ihrer Produktion zu Grunde legen, bewusst nicht geschönt. Viele Sätze werden nicht zu Ende gebracht, Äh und Ums zeigen die Verlegenheit der Sprecherin. Genauso wichtig wie das Ausgesprochene wird das Verschwiegene. Gerade im Bereich der Sexualität wird deutlich, wie der Prozess verläuft, der aus einem neugierigen jungen Mädchen eine verklemmte Frau machen – so vieles darf nicht gesagt, ausgesprochen, nur angedeutet werden.

Die Prüderie der Puritaner und die diese Grenzen ständig verletzende Praxis, die zur Heuchelei führt, sind wichtige Charaktermerkmale von Kristin. So liebenswert sie ist, so sehr wird sie doch auch als Durchschnittsamerikanerin zum Gegenstand der Kritik – und des Schmunzelns. Es ist schwer, sie ernst zu nehmen – dabei ist sie, als Repräsentantin des kritiklosen, naiven Durchschnitts politisch auch für uns in der Alten Welt außerordentlich wichtig: Die Vereinigten Staaten sind unsere Vormacht und die Heldin stellt das Nature Theater als Repräsentantin der Mehrheit dar:

Sechs Schauspieler - fünf Damen, ein Herr - stellen sie dar. Sie stehen wie in der Chorus Line jedes guten Musicals mit dem Gesicht zum Publikum an der Rampe und sprechen, singen zu den Zuschauern, tanzen. Die Musik haben Robert M. Johanson & Julie LaMendola, die auch mitspielen, mit Hilfe eines einfachen Computerprogramms generiert: Es geht hier ums Simple, Naive.

Getanzt wird in Anlehnung an Gymnastik – nur Fumiyo Ikeda ordnet sich nicht ein. Sie gehört zu der berühmtesten belgischen Tanzcompagnie, ROSAS, und kreiert ein Solo, das zeigt, wie Kristin als Teenager unter dem Anpassungsdruck, den sie ja mit ihrem Opportunismus mit erzeugt, leidet – die Tänzerin zeigt, wie linkisch junge Leute häufig sind, wie ihr mangelndes Selbstvertrauen sie deformiert – einer der Höhepunkte der Uraufführung.

Sie ist wunderbar komisch, heiter und fordert zum Nachdenken auf. Das Nature Theater of Oklahoma erweitert den amerikanischen Realismus um eine Spielart: Das Alltägliche wird ernstgenommen, in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, sodass die Bedeutsamkeit, die dem (so oft als langweilig geschmähten) Durchschnitt zukommen sollte, auf der Bühne erzeugt wird. Eine Innovation, die viele neue Tore öffnet.

Erst einmal kommt der dritte Teil. Denn am Ende des zweiten stand, wie bei jeder Seifenoper, die das Nature Theater auf die Schippe nimmt: Fortsetzung folgt!