Amerikanische Verhältnisse an und um Deutschlands Schulen

Von Josef Kraus |
Es ist gut zehn Jahre her, da wusste man, dass sich in puncto Jugendgewalt in Deutschland etwas zusammengebraute - quantitativ und qualitativ. Das hieß: Die Zahl der Gewaltakte Heranwachsender war gestiegen, und die Gewaltakte waren brutaler geworden.
Im Jahr 1993 hatten deshalb ein Bundeskanzler Kohl und eine Bundesjugendministerin Merkel zu einem Anti-Gewalt-Gipfel ins Kanzleramt geladen. Am Ende aber meinten viele, so schlimm sei alles nicht, schließlich hätten wir bei weitem keine Verhältnisse wie in den USA, wo es in Schulen laufend Tote gibt; wo der gewaltsame Tod die häufigste Todesursache unter Jugendlichen ist; wo Sicherheitsdienste die Schultore mit Metalldetektoren bewachen und jährlich Tausende von Schießeisen konfiszieren.

Dieser transatlantische Vergleich mag vor zehn Jahren noch gegolten haben. Mittlerweile hat selbst Deutschland eine erschreckende schulische Gewaltbilanz. Rekapitulieren wir nur die schlimmsten und spektakulärsten Fälle, bei denen in nur 8 Jahren einschließlich einzelner Täter 20 Menschen ums Leben kamen:
- Mai 1999: Ein 15-jähriger Schüler ermordet in Meißen seine Geschichtslehrerin mit 22 Messerstichen.
- März 2000: Ein 16-jähriger Schüler erschießt in Brannenburg einen Internatslehrer.
- Februar 2002: Ein 22-Jähriger erschießt in Freising den Leiter seiner ehemaligen Schule, nachdem er zuvor zwei frühere Betriebschefs auf gleiche Weise getötet hatte.
- April 2002: Ein 19-jähriger Schüler erschießt in einem Erfurter Gymnasium zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Mitschüler und einen Polizisten.
- März 2006: Das Kollegium der Berliner Rütli-Schule fordert den Bildungssenator auf, die Schule zu schließen, weil die Gewalt dort nicht mehr beherrschbar sei.
- November 2006: Ein 18-jähriger Schüler stürmt in Emsdetten eine Schule; er verletzt mit Schusswaffen und Rauchbomben 37 Personen.
- Januar 2007: Eine Gruppe arabisch- und türkischstämmiger Jugendlicher schlägt einen Schülervater, der zugleich Polizist ist, krankenhausreif, nachdem dieser vor einer Berliner Schule einen Streit hatte schlichten wollen.
- Februar 2007: Eine Horde Jugendlicher befreit gewaltsam einen Altersgenossen, der von der Polizei wegen Randale vor einer Nürnberger Schule festgenommen worden war.

Was also ist los in und um Deutschlands Schulen? Müssen Lehrer tagtäglich um ihr Leben und Eltern um das Leben ihrer Kinder bangen? Natürlich nicht. Die genannten 8 Beispiele sind die extremen Beispiele aus 42.000 deutschen Schulen.
Aber Wegsehen führt nicht weiter. Eine geballte Gewalt, die gesellschaftlicher und medialer Alltag ist, schwappt mehr und mehr in die Schulen hinein. Heile Welt ist da nicht mehr. Das hat im wahrsten Sinn des Wortes tausend Gründe, denn von tausend Tätern hat jeder seine ganz individuelle Vita. Allerdings gibt es Merkmale, die den meisten heranwachsenden Gewalttätern gemeinsam sind: selbst erlebte Gewalt in der Familie; eine Erziehung, die keinerlei Grenzen zog oder nur verwöhnte; ein Mangel an sprachlicher Verteidigungs- und Durchsetzungsfähigkeit; ein Mangel an Empathie/Einfühlungsvermögen; zerbrochene Familien; Erfahrungen des Scheiterns in Schule und Berufsbildung; ein schlechter Umgang in der Gleichaltrigen-Gruppe; die oft genug mangelnde Integration bzw. Integrationsbereitschaft von Migrantenkindern; letzteres oft einhergehend mit archaischen Männlichkeitsvorstellungen.

Und dann sind da noch die Medien, die den Heranwachsenden Gewaltmuster mittels gezielter Heroisierung und Ästhetisierung geradezu aufdrängen. Natürlich wird keiner zum Amokläufer, weil er einmal ein sog. Hackfleischvideo angeschaut oder ein Killerspiel gespielt hat. Aber die Hemmschwellen werden dadurch gesenkt. Kommen dann noch andere der genannten Faktoren und Merkmale dazu, dann ergibt das eine hochexplosive Mischung.

Was tun? Mit Patentrezepten ist es nicht getan, dazu sind die Täterprofile zu individuell. Aber eines brauchen wir schon: eine gesamtgesellschaftliche Ächtung von Gewalt. Die Medien müssen daran mitwirken, Eltern und Lehrer ohnehin. Auch die Sportstars dürften sich hier öfter am Riemen reißen, denn ihr Handeln ist Vorbild – im Guten und im Schlechten. Die Schulen selbst, die Sicherheitsdienste und die Rechtsprechung müssen konsequenter eingreifen können. Gewalttätiges Handeln gehört klar und eindeutig sanktioniert – im Interesse der potentiellen Opfer und im Interesse der Täter. Denn ein Gewalthandeln, dem das Gemeinwesen nicht entgegentritt, bleibt ein erfolgreiches Handeln, das sich alsbald wiederholt.


Josef Kraus, Jahrgang 1949, ist seit 1987 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Hauptberuflich ist er Oberstudiendirektor am Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium in Vilsbiburg/Bayern. Kraus, der die Fächer Deutsch und Sport studierte und zudem Diplom-Psychologe ist, schreibt regelmäßig für regionale und überregionale Tageszeitungen. Zuletzt erschien sein Buch "Spaßpädagogik - Sackgassen deutscher Schulpolitik".