Ambivalentes Selbstverständnis

Als Barack Obama am 4. November 2008 zum US-Präsidenten gewählt wurde, schien für 35 Millionen Afroamerikaner ein Traum in Erfüllung zu gehen: 400 Jahre Unterdrückung und Kränkung - zu Ende. Jesse Jackson, der legendäre schwarze Bürgerrechtler, kämpfte mit den Tränen. Bernice King, die jüngste Tochter von Martin Luther King, erklärte, dieser Sieg bedeute, dass ihr Vater nicht umsonst gestorben sei.
Henry Louis Gates sah die Sache - wie so oft - ein wenig anders: Der afroamerikanische Stargelehrte erklärte den 44. US-Präsidenten zum postmodernen Rassentyp: "Die Leute sehen ihn nicht in erster Linie als Schwarzen, sondern als Agenten des Wandels."

Der Wandel ist dringend nötig, auch im Umgang der Ethnien untereinander: Aktuelle Umfragen ergaben, dass 2009 rund 55 Prozent der Afroamerikaner die Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen für ein massives Problem halten (2008 waren es noch 38 Prozent).

Wie massiv, das erlebte Gates, als er am 16. Juli von einer Reise zurückkehrte und im eigenen Haus verhaftet wurde. Ein weißer Polizist hatte den Dozenten für einen Einbrecher gehalten. Gates beschimpfte den Beamten und warf ihm "racial profiling", eine rassistische Vorverurteilung vor.

Obama schlichtete die Situation: Er lud die beiden Männer auf die Terrasse des Weißen Hauses zum klärenden Gespräch und gab danach zu Protokoll: "Ich habe immer daran geglaubt, dass das, was uns zusammenbringt, stärker ist als alles Trennende."

Hätte der Präsident in Gates' berühmte, 1994 erschienene und jetzt vom Diogenes- Verlag wieder aufgelegte Autobiografie hinein gesehen, wären ihm dann Zweifel gekommen?

In "Farbige Zeiten" nämlich schildert Amerikas prominentester schwarzer Intellektueller seine Kindheit und Jugend in den 50er- und 60er-Jahren - jedoch nicht als von Bürgerrechtsprotesten durchtoste Epoche, sondern als Zeit friedlicher Koexistenz, wo jeder unter sich blieb - und damit zufrieden schien.

Liebevoll-ironisch erinnert sich Gates an sein Heimatstädtchen Piemont, West Virginia - eine Welt, in der bis auf die bereits rassisch integrierten Schulen alles andere nach Hautfarbe getrennt war: Friseure, Bars, Hotels, Jobs.

"Weiße konnten nicht kochen", merkt der Erzähler an. "Das wusste jedes Kind. Was es zum Rätsel machte, weshalb solch ein wichtiger Teil der Bürgerrechtsbewegung mit dem Zugang für Schwarze zu Restaurants zu tun hatte." Derart lakonisch wird das Lebensgefühl einer Gemeinschaft eingefangen, die die Umbrüche der Zeit nur aus dem Fernsehen kennt.

Ist Professor Gates also ein revisionistischer Denker? Ganz und gar nicht. Aber mit diesem Erinnerungsbuch setzt er Show-Wissenschaftlern wie Leonard Jeffries aus New York, der die biologische Überlegenheit der schwarzen Rasse predigt, oder Khalid Muhammad, dem antisemitischen Einpeitscher der "Nation of Islam", eine unbequeme Wahrheit entgegen: Die Entwicklung eines afroamerikanischen Selbstverständnisses war ein ambivalenter Prozess - mit der Integration der Schwarzen ging zeitweise auch ein Stück Geborgenheit verloren.

Um die immense Herausforderung zu verstehen, vor der das multiethnische Amerika und sein Präsident heute stehen, ist die Lektüre von Gates' Buch eine exzellente Hilfe. Es präsentiert eine Familiengeschichte als Reflex historischer Entwicklung, in der es keine schwarz-weißen Wahrheiten gibt.

Besprochen von Daniel Haas

Henry Louis Gates: Farbige Zeiten. Eine Jugend in Amerika
Diogenes, Zürich 2009
320 Seiten, 9,90 Euro