Ambivalente Liebe zu Minsk

Von Sven Töniges |
Der Fotograf, Konzeptkünstler und Autor Artur Klinau ist ein exponierter Vertreter der unabhängigen Szene in Weißrussland. Zuletzt hat er seine Heimatstadt Minsk porträtiert. Er zeigt eine schillernde, ambivalente Stadt. Zu sehen sind Fotoarbeiten Klinaus derzeit in der Görlitzer Galerie Klinger.
Ein herbstlicher Samstagnachmittag im Zentrum von Minsk. Gerade hat Artur Klinau noch seinen alten roten Volvo durch die Rush Hour gesteuert. Jetzt sitzt er in einem leidlich gefüllten Café und gönnt sich eine Zigarette. Es wird nicht die letzte sein.

Über den Rand seiner schmalen Brille blickt Artur Klinau auf das Treiben draußen auf dem Prospekt, der Hauptverkehrsader der 1,7 Millionenstadt: Ein sechsspuriger Korridor aus gewaltigen Bauten des stalinistischen Neoklassizismus’ - und Protagonist in Artur Klinaus letztem Buch, seinem ersten, um genau zu sein.

"Als Schriftsteller bin ich ein Anfänger. Ich bin ja erst vor zwei, drei Jahren zur Literatur gekommen. Aber rückblickend ist das eigentlich völlig logisch. Ich habe mein ganzes Leben lang konzeptuell gearbeitet. Schreiben ist ja nichts anderes, bloß arbeitet man eben nicht mit Materialien sondern mit Ideen. Und nach und nach komme ich dahinter, dass Textarbeit eigentlich ideal für mich ist."

Artur Klinau: Lederweste, roter Wollpulli, kurzes graues Haar; ein Kinnbart, der im grauen Dreitagebart unterzugehen droht. Skulpturen aus Heu waren es, mit denen der Konzeptkünstler Artur Klinau zuletzt auf sich aufmerksam machte: In Bonn stellte er antike Säulen und Friese aus Stroh auf die grüne Wiese, in Vilnius schuf er Wohnräume vollends aus Heu.

Weißrussland als großes Dorf, als Agrar-Nation, die sich irgendwie auf halbem Wege in die Moderne verlaufen hat. Eine der Thesen, die der 43-Jährige immer wieder dekliniert. In seinen Installationen oder im "pARTisanen", Weißrusslands einziger Zeitschrift für zeitgenössische Kunst. Seit 2002 gibt Artur Klinau die Zeitschrift heraus.

"In diesem Land gibt es kein Schwarz oder Weiß, alles ist gemischt, alles ist irgendwie unklar. Es ist keine Diktatur, aber auch keine Nicht-Diktatur. Es ist immer ein Dazwischen.”"

Dieses Dazwischen interessiert den Kunst-Partisanen Klinau auch an seiner Heimatstadt Minsk. Ihr widmete er mit seinem literarischen Debut eine schillernde Hommage. "Minsk - die Sonnenstadt der Träume" - ein, sagen wir, schmeichlerischer Beiname für die weißrussische Hauptstadt. Tatsächlich sollte das im Krieg völlig zerstörte Minsk die sowjetische Musterstadt werden, ein stalinistisches Utopia. Dieses Erbe protokollieren Klinaus Schwarz-Weiß-Fotografien des heutigen Minsk: Plätze und Gebäude, weit, streng und menschenleer, wie aus der Zeit gefallen.

""Die Sonnenstadt ist wie ein sowjetisches Geschenk des Himmels. Wir müssen die Stadt jetzt adoptieren, irgendwas mit ihr anfangen, sie in unseren heutigen Kontext setzen."

Auch sieben Zigaretten und zwei Tassen Kaffee später will Artur Klinau über seine Person nicht viel verraten. Vielleicht, weil in seinem Minsk-Buch bereits viel Autobiografisches steckt.

Etwa über das Minsker Altstadtviertel Njamiha, wo Artur Klinau geboren wurde, 1965 - ein echtes Kind der Breschnew-Ära; seine Mutter Ingenieurin, sein Vater Bildhauer - und kein Kind von Traurigkeit, wie Klinau sagt. Bis heute lebt Artur Klinau mit Frau und Tochter in der Altstadt von Minsk; der Stadt, zu der der studierte Architekt ein leidenschaftlich-ambivalentes Verhältnis unterhält.

"Am besten fährt man mit dem Auto nach Minsk hinein, spätabends, gegen Mitternacht. Wenn Sie zu Michael Nymans Musik gemächlich über den Prospekt zwischen seinen traurig erhaben tönenden Fassaden gefahren sind, wird Sie vielleicht eine seltsame Leidenschaft für diese Stadt ergreifen. Sie nehmen ihren nekromantischen Eros wahr."

Auf Weißrussisch schreibt Artur Klinau, auf Weißrussisch gibt er auch das Interview. In Weißrussland keine Selbstverständlichkeit - vielmehr ein politisches Statement: Nach zweihundert Jahren Russifizierung und nach bald 15 Jahren neo-sowjetischer Kulturpolitik unter Alexander Lukaschenko beherrscht gerade noch ein Fünftel der Bevölkerung Weißrussisch. Aber Artur Klinau ist optimistisch - wie eigentlich immer, wenn er in die Zukunft blickt:

"Zu Sowjetzeiten war die weißrussische Kultur nichts als Dekoration, hübsches Beiwerk, von oben verordnet. Allerdings gab es auch mehr staatliche Förderung als heute. Aber das war nichts Echtes. Heute kommt die Wiedergeburt des Weißrussischen eben gerade von unten, Jugendliche fangen an, weißrussisch zu sprechen, sich für die Sprache zu interessieren; das ist viel erfolgsversprechender."

Wenn Artur Klinau gleich zurück an seinen Schreibtisch eilt, wird er an seinem neuen Roman feilen, auf weißrussisch selbstredend. Nächstes Jahr soll er erscheinen. Der Held: ein Schelm mit Helm, auf dem Kopf eine übergroße Pickelhaube, die ihm jede Sicht versperrt.

Ein umherirrendes Wesen, wie aus einem Gemälde de Chiricos - für Artur Klinau die Metapher für die weißrussische Gegenwart:

""Weil auch dieses Land derzeit umherirrt, es nicht weiß, wo und was es ist. Es ist nicht im Osten, nicht im Westen, nicht Europa, nicht Asien."