Amanda Leduc: „Entstellt"

Warum die Märchenprinzessin nie hinkt

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Das Buchcover "Entstellt" von Amanda Leduc ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
Deprimierende, aber auch ermutigende Motive in der Märchenwelt findet Amanda Leduc in "Entstellt". © Deutschlandradio / Edition Nautilus
Von Susanne Billig · 21.04.2021
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In "Entstellt" untersucht Amanda Leduc Märchen, deren Figuren körperliche oder geistige Besonderheiten aufweisen. Überraschend ist die Perspektive ihrer mitreißenden Analyse. Die Schriftstellerin ist selbst unheilbar hirngeschädigt.
"Es war einmal ein reicher Bauer, doch etwas fehlte an seinem Glück: Er hatte mit seiner Frau keine Kinder. Die anderen Bauern spotteten über ihn und da ward er zornig und sprach: 'Ich will ein Kind haben, und sollt's ein Igel sein!'"
In ihrem Buch "Entstellt" analysiert Amanda Leduc genau solche Märchen – aus einer Perspektive, die so ungewohnt und doch so naheliegend ist, dass man sich gemeinsam mit der Autorin wundert, warum es bislang so wenig Bücher zu dem Thema gibt.

Analyse aus überraschender Perspektive

Dabei überrascht die 1982 in British Columbia geborene Autorin mit ihrer eigenen Erfahrung: Sie wurde schon in frühester Kindheit am Gehirn operiert und lag lange im Krankenhaus. Die Diagnose lautete Zerebralparese. Eine vorgeburtliche Zyste hat ihr Gehirn geschädigt, sodass sie beim Gehen hinkt und einen Fuß weit nach innen dreht.
Wie andere Kinder auch ließ sich Amanda Leduc von Märchen verzaubern und träumte davon, als Prinzessin und Primaballerina umjubelt durch heile Welten zu schweben. Das aber konnte nicht bruchlos passieren, denn im Märchen kamen hinkende Prinzessinnen nicht vor.
Stattdessen las die kleine Amanda von Hans, dem Wunschkind seines Vaters, halb Igel, halb Mensch, der es ertragen musste, dass ihn seine Eltern jahrelang im Haus versteckten, weil sie sich seiner schämten.

Auf dem Stand der aktuellen Märchenforschung

Vor diesem Hintergrund schaut die Kanadierin auf die vielschichtige Märchenwelt der Gebrüder Grimm, Hans Christian Andersens, der Filme von Walt Disney und der Erfolgsserie "Game of Thrones". Sie findet dabei deprimierende, aber auch ermutigende Motive.
Allein in 80 von 200 Märchen der Brüder Grimm tauchen Figuren mit körperlicher oder geistiger Besonderheit auf – in ihrem Buch greift die Autorin prägnante Beispiele heraus, analysiert sie auf dem Stand der aktuellen Märchenforschung, schließt an die Debatten der Emanzipationsbewegung an und verwebt alles das abwechslungsreich und lebendig mit eigener Erfahrung, ohne den Tonfall bleierner Betroffenheit.
In Märchen werden Menschen auf einmal stumm wie die Fische oder tragen einen Buckel, schrumpfen zum Däumling oder flattern als Gänse davon, wobei die körperliche Abweichung häufig als Fluch oder Strafe eingeführt wird.
Das liegt vor allem an der sozialen Umwelt, sie reagiert mit Ausgrenzung. Doch Märchen sind vielschichtig. Oft fungieren die körperlich Verwandelten sogar als Sympathieträger der Erzählung – Hans, der Igel, geht von zu Hause fort und macht selbstbewusst sein Glück. Allerdings heiratet die Prinzessin ihn erst, als er den Igel-Teil seines Körpers abwirft.

Wie Diskriminierung funktioniert

Um zu begreifen, wie Diskriminierung funktioniert, braucht es viele Jahre Schmerzen, Durchhaltevermögen und Denkarbeit, zeigt die Autorin an ihrem eigenen Beispiel.
"Ich habe keine gute Fee, weil ich keine brauche", kann sie am Ende von sich sagen. "Ich brauche keine Rettung mehr."
Denn sie hat sich abgewendet – von Geschichten, die behaupten, dass Menschen wie die Autorin schwach und schutzbedürftig seien und ein Happy End erst möglich sei, wenn sie ihre körperliche Abweichung abschütteln.
Wie wäre es, so fragt Amanda Leduc, wenn Hans ein wunderschöner Igel-Prinz wäre? Und das hinkende Mädchen eine Primaballerina? Die Zeit wäre reif dafür!

Amanda Leduc: "Entstellt – Über Märchen, Behinderung und Teilhabe"
Aus dem kanadischen Englisch übersetzt von Josefine Haubold
Edition Nautilus, Hamburg 2021
288 Seiten, 30 Euro

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