Am Wendepunkt

Rezensiert von Barbara Dobrick |
In den Künsten und in der Liebe geht es ums Ultimative. Eine große Liebe macht die Liebenden einzigartig füreinander und verändert sie schon dadurch über das Ende der Liebe hinaus. Und große Kunst ist einzigartig. Nie zuvor ist etwas so gesehen und gezeigt oder ausgedrückt worden, deshalb kommt auch der geschickteste Fälscher, der gescheiteste Epigone immer zu spät.
Um Liebe und Kunst geht es in den Erzählungen von Clemens Berger, um weltbewegende Momente, von denen zwar die Welt nichts merkt, aber ein Einzelner so erschüttert wird, dass für ihn nichts mehr ist wie zuvor.

In der Geschichte, die für den schmalen Prosaband zum Titel wurde, geht es um Alfred, der überredet worden war, in einem Passionsspiel mitzuwirken. Er spielt die Rolle des Judas. Alfred ist ein Mann, von dem es heißt, er sei weder glücklich noch unglücklich. Man könnte sagen, sein Leben ist wohltemperiert, man könnte es aber auch lau und langweilig nennen. Durch das Theaterspielen wird Alfred immer lebendiger, immer entschiedener. Er erinnert sich an seine Kindheit, an die Schläge des Vaters, an die fromme Mutter. Und an die Auftritte von Herrn Horvath in der Kirche:

„Jeden Karfreitag war ein alter kleiner Mann ans Pult neben dem Altar getreten und hatte aus der Heiligen Schrift gelesen. Er hatte seinen besten Anzug getragen, den einzigen wahrscheinlich. … Herr Horvath war ein einfacher Mensch gewesen, keiner, den man mit großen Reden und teuren Kränzen zu Grabe trug. Gerade so wie Alfred. … Und diese Lesung am Karfreitag, vorm Pult in der randvollen Kirche, war sein großer Auftritt gewesen. Der Auftritt seines Lebens.“

Für Alfred wird die Rolle des Judas zum Auftritt seines Lebens. Die Proben bereichern ihn mit neuen Gedanken und Gefühlen, die ihn verwandeln, ihn selbstbewusst machen und in die Leidenschaft zu Anna führen, seiner großen unerfüllten Liebe schon seit Jugendzeiten. Auch seine Gedanken über die Rolle des Judas will er mit ihr teilen:

„Wenn ich Jesus nicht übergeben hätte, könnte es dann heißen: Und es geschah, wie es geschrieben stand?
Nein.
Und wenn sie ihn nicht gekreuzigt hätten, wenn er an einem Herzinfarkt oder an Altersschwäche gestorben wäre, wäre er dann der Gekreuzigte, der für uns starb?
Nein.
Bin ich also ein Verräter oder sein bester Freund? Sein treuester Gehilfe?
Du bist verrückt.“

In allen fünf Erzählungen von Clemens Berger verrückt sich für die Protagonisten die Weltsicht auf entscheidende, wenn auch für andere nicht unbedingt nachvollziehbare Weise. Bergers Hauptpersonen geraten so an Wendepunkte ihres Lebens. Das ist nicht in jedem Fall mit Glück verbunden, in manchen sogar katastrophal.

Clemens Bergers Stärke ist es, ganz ruhig die Atmosphäre zu zeigen, in der seine Figuren innerlich leben und sie bis zu einem Kulminationspunkt zu begleiten. Es sind also klassische Kurzgeschichten. Und auch sein Stil wirkt klassisch. Leider neigt Berger allerdings immer mal wieder zu grammatisch höchst umständlich konstruierten Sätzen, und wenn in einem Absatz von 14 Zeilen zehnmal das Wort „hatte“ auftaucht, ist das auch nicht schön.

Aber Berger hat eine eigene Art Geschichten zu erzählen, und es ließen sich auch Belege für seine Formulierungskunst zitieren. Es ist zu spüren, wie ambitioniert er ist, wie ernst er es meint. Vielleicht so ernst, wie die Malerin in seiner ersten Geschichte:

„'Das wahrste Bild von allen, und das revolutionärste‘, sagte Iris am Telefon, ‚ist noch nicht gemalt worden. Glaub mir, einmal werde ich es malen.‘“

Iris malt Kirchenbilder. Und wie sie ihren anmaßenden Vorsatz in die Tat umzusetzen versucht, zeigt das überraschende Ende der ersten Geschichte. Die erste Erzählung gibt eine Art Subtext auch für alle folgenden vor: Wer wirklich jung sein, wer wirklich lieben, wer als Schauspieler oder Künstlerin bestehen will, muss das Absolute wollen und suchen. Und diese Suche führt sowohl zur Auseinandersetzung mit der Tradition, auch der religiösen, als auch zum unbedingten Wunsch, das Vorgegebene eigensinnig zu verwandeln und mit dem, was neu ist, zu verquicken. Das macht Bergers Geschichten und ihn als Autor interessant.

Clemens Berger: Und hieb ihm das rechte Ohr ab
Erzählungen
Wallstein Verlag
180 Seiten, 18 Euro