Am Rande der Realität in Nahost

Rezensiert von Katharina Döbler · 10.07.2006
Die aktuelle Lage in Israel und Palästina scheint es wieder einmal menetekelgleich zu beweisen: Es wird keinen Frieden geben in dieser Region, keinen Konsens ihrer Bewohner, keine Gemeinsamkeit. Nur ein kleines Häufchen Intellektueller und Künstler versucht immer wieder, die Gräben zu überwinden. Wahrscheinlich sind solche Leute einander sowieso näher als sie ihrer jeweiligen Regierung sind.
Ganz gewiss trifft das für den Israeli Etgar Keret und den Palästinenser Samir El-youssef zu: Sie haben ein gemeinsames Buch mit erzählender Prosa herausgebracht und bezeichnenderweise erschien es zuerst in einem Londoner Verlag, wo der aus Libanon gebürtige El-youssef seit 1990 lebt.

Gemeinsam ist den beiden Autoren, außer dem Mut zu einem solch demonstrativen Projekt, der geschärfte Blick auf eine durch den fortwährenden Krieg zerstörte und korrumpierte Gesellschaft. Doch beide erheben ihre Stimme nicht im klagenden bis anklagenden Ton des moralisch Überlegenen, sondern eher in einem der komischen Verzweiflung – man könnte auch Galgenhumor dazu sagen.

Kerets dreizehn kurze Erzählungen – von denen fünf bereits vorher auf Deutsch erschienen sind – bewegen sich stets am Rande der Realität: Dort wo sie bereits in den Irrsinn auszufransen droht und die Konturen des Wahren nicht mehr auszumachen sind. Und die des Guten und Schönen schon gleich gar nicht.

Da ist ein Mann, dessen Frau bei einem Selbstmordanschlag ums Leben kam. Er trauert, er macht sich Vorwürfe, er hätte sie mit dem Auto zur Arbeit fahren sollen. Was ihm keiner gesagt hat, weder der untersuchende Pathologe noch die rachedurstige Reden schwingenden Politiker: Seine Frau hatte Krebs und wäre in Kürze daran gestorben. Der beinahe zynisch anmutende Titel der Geschichte ist "Überraschungsei"; doch ihr Ton ist alles andere als zynisch: er ist voller Mitleid und leiser Bitterkeit.

Scharf wird Keret immer nur dann, wenn er beschreibt, wie Menschen durch die alltäglich und staatlich sanktionierte Gewalt deformiert werden; da bedient er sich oft des Mittels der Groteske.

Grotesk ist auch die Welt, die El-youssef beschreibt: Irgendwann während der ersten Intifada, in einem Flüchtlingslager, kämpft Bassem, ein junger Möchtegern-Dichter, um sein seelisches Gleichgewicht - mit Hilfe von Unmengen von Haschisch und Tabletten. Sein einziger großer Wunsch ist es, ein Visum zu ergattern und wegzukommen.

Der Text ist schon mehr als eine Erzählung, eher eine Novelle von über 60 Seiten. Und sie zeigt, aus der verschwimmenden Perspektive eines verantwortungslosen Dauerkiffers, eine absurde Wirklichkeit, die unter der dicken Schicht politischer Rhetorik zudem kaum noch auszumachen ist.

Ahmad zum Beispiel, der im Sold sowohl der Fatah wie des Nachrichtendienstes steht und nebenbei noch Gelder einer kurdischen Splittergruppe unterschlägt, predigt Misstrauen gegen Arafat und etwas, das er symbolischen Realismus nennt. Salim, der Drogenhändler, ist dagegen mehr für den magischen Realismus. Doch allen zusammen scheint jede Art von Realismus völlig fremd zu sein, und jeder lebt in seinem eigenen heillosen Wahngebilde. Dies vor allem ist es, was beide Autoren beschreiben: Krieg und Politik als weit gesellschaftlich verankerte Formen des Realitätsverlusts.


Etgar Keret, Samir El-Youssef: Alles Gaza. Geteilte Geschichten
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. Aus dem Englischen von Verena Kilchling.
Sammlung Luchterhand, München 2006, 144 Seiten