Am Rande der Gesellschaft

Von Bernd Sobolla · 17.07.2013
Benedek Fliegauf gilt neben István Szabó und Bela Tarr als der bekannteste ungarische Filmregisseur. In "Just the Wind" greift er die Mordserie an Roma vor einigen Jahren in seinem Land auf. Auf der diesjährigen Berlinale bekam der Film den Großen Preis der Jury.
Ein etwa zwölfjähriger Junge kommt aus dem Unterholz: Er umgeht mit deutlichem Abstand eine Beerdigung und schaut verstohlen zu den Trauernden, die am Grab singen: "Inmitten der schwarzen Nacht haben sie deinen Vater umgebracht … Lauf, Junge, lauf! Sie haben deinen Vater umgebracht", lautet der Text. In dem Dorf wurde eine Roma-Familie ermordet, und die Täter sind entkommen.

Der Junge, der ihnen zuhört, heißt Rió, ist Roma und wohnt ganz in der Nähe, irgendwo auf dem ungarischen Land. In einem winzigen Haus lebt er dort mit seinem Großvater, seiner Schwester Anna und seiner Mutter Mari. Der Vater befindet sich in Kanada, wohin er seine Familie bald holen will – wenn das Geld reicht. Bis dahin versorgt Mari, seine Frau, jeden Morgen den kranken Vater und weckt ihre Kinder, damit sie zur Schule gehen.

Filmausschnitt:"
- Rio, steh auf.
- Ich will nicht.
- Die werden dich rauswerfen."

Dann macht sich Mari selbst auf den Weg zur Arbeit und Anna wartet auf den Bus, der sie zur Schule bringt. Spätestens wenn dieser deutlich an ihr vorbei fährt, ehe er doch noch anhält, wird klar, dass die Familie am Rande der Gesellschaft lebt.

Regisseur Benedek Fliegauf erzählt die Geschichte in ruhigen Bildern, mit sanften Schnitten und spärlichen Dialogen. Genauer gesagt, er lässt seine Protagonisten ihr Innenleben fast ausschließlich mit ihren Gesichtern erzählen. Den Kopf immer etwas nach unten gerichtet. Aber ihre Augen suchen stets die Umgebung ab, als drohe von allen Seiten Gefahr. So auch wenn der Lehrer in der Schule mit lüsternem Blick die 14-jährige Anna fragt, ob sie wisse, wer den Monitor gestohlen habe.

Filmausschnitt:"
- Weißt du, dass ein Monitor geklaut wurde?
- Wirklich?
- Wirklich.
- Jemand hat den Monitor am helllichten Tag geklaut."

Der Filmemacher schafft es von Anfang an, eine Spannung des Misstrauens, der Angst und Verfolgung aufzubauen. Einerseits durch die langsamen, unsicheren Bewegungen seiner Protagonisten, andererseits aber auch durch kleine Zeichen am Bildrand. Wenn Anna das Haus verlässt, sieht man im Hintergrund zwei kaputte Puppen liegen, Zeichen einer zerstörten Kindheit. Und als ihr Bruder Rió das Haus der ermordeten Roma-Familie nach Konserven durchsucht, tauchen plötzlich Polizisten auf, deren Gespräch er belauschen kann und das deutlich macht, dass von ihnen keine Hilfe zu erwarten ist. Einer der Beamten bedauert, dass es die Falschen getroffen habe. Denn es bringe nichts, meint er, arbeitsame "Zigeuner" zu töten. Schmarotzer hingegen hätten nichts Besseres verdient. Man solle den Tätern das richtige Haus zeigen, damit das Ganze auch eine Logik habe.

"Just the wind" ist ein bewegendes Drama. Ohne sentimentale Musik, aber mit atmosphärisch starken Bildern schildert der Film, wie eine Familie in einer Art Vakuum lebt, aus dem es wahrscheinlich kein Entrinnen gibt.