Am Rand des Abgrunds

Ernesto Sábato
Ernesto Sábato © dpa
Von Peter B. Schumann · 30.04.2011
Der "christliche Anarchist" konnte die Welt nur als Apokalypse wahrnehmen. Sábato verkörperte das kosmopolitische und das tragische Argentinien - auch durch seine widersprüchliche Haltung zur Militärdiktatur.
Sein letztes Werk übertraf den Schrecken aller früheren, für die er berühmt war: Nunca más (Nie mehr) – so hieß der offizielle Abschlussbericht der Kommission zur Aufklärung der Schicksale jener Argentinier, die während der Militärdiktatur zu Zehntausenden verschleppt, gefoltert, ermordet wurden. Ernesto Sábato war 1983/84 der Vorsitzende dieses Untersuchungsausschusses, dessen Arbeit ihm ein "Gang durch die Hölle" schien.

Dabei drehte sich sein gesamtes literarisches Schaffen um nichts anderes als den Blick in den Abgrund, auf den gesellschaftlichen Zusammenbruch, den er in den drei Romanen, die ihn bekannt machten, beschrieben hat: Der Tunnel von 1948, Über Helden und Gräber von 1961 und Abbadón von 1974. Sie waren "ganz zufällig" − wie er sagte − jeweils im Abstand von 13 Jahren erschienen und zählen zum Kanon der lateinamerikanischen Literatur.

Vor allem in dem Bericht über die Blinden, dem zentralen Kapitel von Über Helden und Gräber, kam die Welt der allseitigen Bedrohung und Verfolgung, des allgegenwärtigen Schreckens zum Ausdruck − eine Vision der Diktatur, die 1976 in Argentinien furchtbare Wirklichkeit wurde. Für Ernesto Sábato entstand sie zunächst in den mehrdeutigen, dunklen, widersprüchlichen Fantasien des Unterbewussten – einer seiner bevorzugten Begriffe –, die sich immer wieder zu unerklärlichen Ausbrüchen des Deliriums steigern.

Doch in welche Abgründe seine Figuren auch blicken, welchen Gemeinheiten sie ausgesetzt sind, in welche bodenlosen Tiefen der Verzweiflung sie tauchen, immer war ihr Autor dabei auf der Suche nach der Überwindung der aussichtslosen Verwirrung des Menschen. Denn er wollte nicht zuschauen, wie am Ende der Katastrophe "über den Helden und Gräbern" nur noch Schweigen wächst. Dabei war sein Vertrauen in die Wissenschaft und den zivilisatorischen Fortschritt längst geschwunden. Jedes Gespräch mit ihm in seinem bescheidenen Haus in Santos Lugares, im Großraum von Buenos Aires, führte immer wieder fast zwangsläufig an diesen zentralen Punkt seines Denkens. Was er mir bereits in den 90er Jahren sagte, ist heute aktueller denn je:

"Der Fortschritt hat den Planeten an den Rand des Abgrunds gebracht. Was für Realisten sind die großen Finanzmagnaten Europas und der USA, die dazu beitragen, dass jede Form von Realität zerstört wird, durch Kontamination die physische und durch Spekulation und Entmenschlichung die geistige Realität. Wir befinden uns in der totalen Krise einer ganzen Lebensform, und dafür ist vor allem die Wirtschaft verantwortlich. Sie regiert nicht die Welt, sie richtet sie systematisch zugrunde. Was die Welt zusammenhält, sind die großen Ideen der großen Denker."
Von Beruf war Ernesto Sábato Physiker. Als Perón jedoch 1945 an die Macht kam, beendet er seine Hochschullaufbahn: Der Peronismus war ihm zuwider. Er gab auch die Naturwissenschaft völlig auf: Sie hatte ihm letzten Endes keine Erklärung für seine Ängste und Alpträume geboten, die ihn seit seiner frühen Jugend heimsuchten. Er wandte sich der Literatur zu. Mit ihrer Hilfe wollte er wenigstens darstellen, was ihn im Innersten aufwühlte und zu Phasen tiefer Depression führte. Sie hielten ihn immer wieder vom Schreiben ab, wie später auch die schwere Augenkrankheit, die ihn 1979 ereilte. Sie weckte in ihm jedoch eine alte Leidenschaft: die Malerei.

"Als man mir Lesen und Schreiben verbot, da begann die Stunde des Malens. Zuvor hatte ich meiner Frau immer gesagt: Ich werde mit der Sehnsucht nach der Malerei sterben. Inzwischen habe ich meine Werke im Centre Pompidou in Paris, in Madrid und São Paulo ausgestellt. Meine Malerei ist essentiell tragisch wie meine Literatur und sehr stark vom Expressionismus beeinflusst. In den letzten Jahren entstand sie nur noch im Unbewussten."

Der "christliche Anarchist" konnte die Welt nur als Apokalypse wahrnehmen. Sábato verkörperte das kosmopolitische und das tragische Argentinien - auch durch seine widersprüchliche Haltung zur Militärdiktatur.

Ernesto Sábato – zuletzt ein nahezu blinder Seher wie der andere Große der argentinischen Literatur, Jorge Luis Borges, ein Vierteljahrhundert vor ihm gestorben. Beide waren Freunde und zugleich literarische Antipoden. Sie verkörperten Argentinien, das kosmopolitische und das tragische, in all seiner Widersprüchlichkeit, auch durch ihre eigene widersprüchliche Haltung zur Militärdiktatur.

Doch gerade Ernesto Sábato erlebte in den letzten 15 Jahren eine unglaubliche Renaissance. Während der Präsidentschaft von Carlos Menem in den 90er-Jahren, als Politik zum Showbusiness verkam und die neoliberale Ausverkaufspolitik das Land an den Rand des Bankrotts trieb – da entdeckten die Argentinier in ihm eine moralische Instanz. Vor allem die studentische Jugend verehrte ihn wegen seines ethischen Rigorismus und wählte ihn sogar zum Ehrenpräsidenten des Studentenverbandes.

Nun ließ er sich endlich bewegen, seine Memoiren zu verfassen. Im Januar 1999 erschienen sie mit dem Titel Vor dem Ende und erreichten innerhalb weniger Wochen eine Auflage von über 100.000 Exemplaren – ein sensationeller Erfolg für einen Schriftsteller, der nie von seinen Büchern hatte leben können. Dabei sind diese Memoiren genauso wenig spektakulär wie der zwei Jahre später folgende Essay Der Widerstand, ein weiterer Bestseller.

Der "christliche Anarchist" – wie er sich selbst einmal bezeichnete – konnte zwar auch hier die Welt nur als Apokalypse wahrnehmen. Doch gerade dagegen stemmte er sich. "Wo Widerstand herrscht, da gibt es Hoffnung" – so schrieb er in diesem, seinem letzten Appell an die Grundwerte der Gesellschaft.
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