Am falschen Ende gespart

Von Wolfram Siebeck |
Wir Deutsche sind geiziger als andere, und wenn es in Herdnähe duftet, brutzelt und der kulinarische Genuss schon einen Fuß in der Tür hat, dann warnt der deutsche Familienvater (oder die deutsche Hausfrau) vor der Verschwendung wirtschaftlicher Rücklagen, die fehlen werden, wenn die Familie in den Urlaub nach Hiddensee fährt.
Aber ist es wirklich der furchtsame Blick auf die Arbeitslosenzahlen, der das Bekenntnis „Preis ist wichtiger als Qualität“ zum Kredo der Schnäppchenjäger macht? Ich wage, Zweifel anzumelden. Der als geil gepriesene Geiz ist viel zu tief in unserer Volksseele verankert, als dass er auf eine temporäre, wirtschaftliche Schieflage zurückgeführt werden könnte. In den »Goldenen Jahren«, die der gegenwärtigen Krise vorausgingen, in diesen Jahrzehnten des allgemeinen Wohlstands, als wir lernten, hinter der guten Qualität noch eine bessere zu erkennen, reagierten wir auf den Zuwachs an Wissen schon verdächtig sparsam. Nicht wenn es darum ging, eine Ferienwohnung oder einen Zweitwagen zu kaufen. Aber beim Essen hielten sich die Deutschen zurück.

Viel durfte es sein, gewiss. Das über den Tellerrand hinaushängende Schnitzel war eine Empfehlung für den Wirt, die kleinen Portionen im Gourmetlokal schreckten ab. Der Gast wollte viel haben für sein Geld, die Qualität des Gekochten kam erst an dritter Stelle. Kein Wunder, dass die beliebtesten Speisen der Deutschen die Pizza und Nudelgerichte sind. Das sind nicht gerade Präferenzen, die auf anspruchsvolle Essgewohnheiten hinweisen. Das Komplizierte, mit dem jeder kulinarische Anspruch zwangsläufig verbunden ist, ist seit Luther, der die lateinische Sprache aus seiner Kirche verbannte, diskreditiert. Und als auf dem Höhepunkt der Deutschtümelei der Begriff „Dekadenz“ mit einem urbanen, westlichen Lebensgefühl gleichgesetzt wurde, hatte die französische Küche beim deutschen Volk keine Chance. Wir konvertierten ziemlich geschlossen zur allein selig machenden Graupensuppe und zum Hering.

Die einzige Epoche unserer Geschichte, in der diese Entwicklung hätte unterbrochen und durch einen lebensfreundlichen Hedonismus ersetzt werden können, das war der vorhin als „Goldene Jahre“ angesprochene Zeitraum zwischen 1970 und 2000. Und tatsächlich, beinahe hätten wir es geschafft! Der Konsument interessierte sich plötzlich für die Herkunft seiner Lebensmittel. Letztlich aber scheiterte der Hedonismus an der Angst. Wie Godzilla, aus dem Meer auftauchend, Angst und Schrecken verbreitete, so überfiel uns der BSE genannte Rinderwahnsinn in unserem Wohlstandsghetto.

Da war es erst einmal vorbei mit dem Wunsch nach Verfeinerung. Und da wir bei der Angstausübung in diesem Jahrhundert ebenso gründlich sind wie bei der Schreckensverbreitung im vorigen, entdeckten wir gleichzeitig auch die Hormonkälber, die Pharmaschweine und die Dioxineier. Alles, was wir in den Mund stecken wollten, schien vergiftet bis zur Lebensgefährdung.

Wer wollte, wer konnte sich da noch über unterschiedliche Qualitäten informieren? Wenn schon jedes Ding ungenießbar war, dann sollte es wenigstens billig sein, mögen sich die verschreckten Hypochonder gedacht haben. Es begann der Siegeszug der massenproduzierten und vorgefertigten Lebensmittel. Merkwürdigerweise profitiert von dieser Misere die biologische Landwirtschaft nur in geringem Maße. Sie ist zwangsläufig etwas teurer als konventionell erzeugte Massenprodukte – schon lässt der Konsument die Finger davon. Er spart am falschen Ende.

Daran erkennt man die Geizigen. Sie gönnen nicht nur ihren Nachbarn nichts, sie versagen auch sich selbst das kleine Glück, das sie sich ohne weiteres leisten könnten. Dass ihre Knauserigkeit aber platt egoistisch motiviert und fürs Allgemeinwohl schädlich ist, erkennen sie nicht. So wie eine Demokratie nicht funktionieren kann, wenn niemand zur Wahl geht, so kann der Einzelhandel keine besseren Qualitäten anbieten, wenn der Konsument den Konsum verweigert.

Die düstere Zukunft, vor der sich der Geizige fürchtet, beschwört er also selbst herauf. Wenn er wenigstens die Frage, ob es ein Leben nach dem Geiz gibt, in seine Überlegungen einschlösse! Doch die übersteigt wohl seine Intelligenz.


Wolfram Siebeck, 1928 in Duisburg geboren, ist eine Institution: Der wohl bekannteste deutsche Restaurant-Kritiker. Er arbeitete zunächst als Illustrator, Film- und Theater-Kritiker sowie als Satiriker, bevor er 1967 sein Hobby zum Beruf machte und sich ganz der Eßkultur widmete. Er schreibt seit Jahrzehnten Kolumnen u. a. für die „ZEIT“ und für Gourmetzeitschriften. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Restaurantführer und Kochbücher. Siebeck lebt in der Nähe von Freiburg und in der Provence.