Am Ende ein anderes Deutschland?
Die Einwanderungsdebatten in Deutschland sind zu einem Sammelbecken der Verlogenheiten geworden. Lange Zeit tat das Einwanderungsland Deutschland so, als sei es gar kein Einwanderungsland und von Gastarbeitern, die keine Einwanderer waren, wurde behauptet, sie seien Einwanderer. So redete man Jahrzehnte lang aneinander vorbei, ohne zu gestalten, Vorsorge zu treffen und vor allem ohne Interessen zu definieren.
Nirgendwo wird die Blockade eigener, deutscher Interessen so deutlich wie in der Zuwanderungspolitik. Das Land braucht ökonomisch und demographisch betrachtet Zuwanderer. Doch die, die man braucht, kommen nicht oder nur in Ausnahmefällen. Im Vergleich zu Großbritannien, Kanada, Australien und USA hat die Attraktivität Deutschlands gerade für die gut ausgebildeten Migranten deutlich abgenommen. Das Green-Card-Unternehmen der rot-grünen Regierung wurde zu einem Fiasko.
Betrachtet man das vergangene halbe Jahrhundert, so kann man feststellen, dass die deutsche Politik und Gesellschaft auf das Phänomen der Zuwanderung bestenfalls paralysiert reagiert hat. Verschreckt durch die Last der Geschichte, das Scheitern eines deutschen Nationalstaates auf demokratischer Grundlage hatte die Bundesrepublik wenige Instrumentarien zur Hand, um den Einwanderungsprozess zu gestalten.
Die Gastarbeiter, die man rief, blieben auch lange nach dem sie schon nicht mehr gebraucht wurden, aber nicht nur das, es kamen über das liberale Asylrecht, das auch ein Zugeständnis an die Erfahrungen aus der deutschen Geschichte war, weitere Millionen Menschen nach Deutschland, unabhängig von Qualifikation, Alter, Geschlecht.
Ergebnis: Deutschland muss diese Menschen, ihre Kinder und Familien jetzt integrieren, in einen Arbeitsmarkt, der praktisch nicht mehr vorhanden ist, in ein Bildungssystem, das kränkelt, in ein deutsches Selbstverständnis, das alles andere als selbstsicher ist.
Wie ein Hohn klingen da Debatten darüber, ob die Multikulti-Gesellschaft gescheitert sei oder nicht, ob Grüne oder Christdemokraten die Verantwortung für die gegenwärtige, ausweglos scheinende Lage tragen.
Etwas ganz anderes wäre heute dringend nötig: Wir müssen endlich begreifen, dass jeder Einwanderungsprozess eine Gesellschaft nachhaltig verändert und dass niemand ein Rezept in der Hand hält, das alle Probleme über Nacht lösen kann. Im Gegenteil, es wird sehr lange dauern, bis die deutsche Gesellschaft das gegenwärtige Erscheinungsbild verdaut, und am Ende wird wahrscheinlich keine klassische Assimilation der Zugewanderten stehen, sondern ein anderes Deutschland. Deutsche, die anders sind, als wir sie heute wahrnehmen.
Die entscheidende Frage ist, ob die deutsche Gesellschaft bereit ist, diesen Weg zu gehen, der zugleich ein Weg in das 21. Jahrhundert ist. Mit anderen Worten, die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, ob wir lernen mit dem Phänomen der Masseneinwanderung unter den Bedingungen einer globalisierten, vernetzten, medial gelenkten Wirklichkeit zurecht zu kommen.
Gelingen kann dieser Prozess nur, wenn die Interessen Deutschlands mit den Interessen der Zuwanderer in Einklang gebracht werden und dort, wo sie nicht im Einklang miteinander stehen, bedürfte es einer offenen Diskussion und der Verhandlung. Jede moderne, demokratische Gesellschaft ist ein Vertragswerk, das ausgehandelt werden muss, auf freiwilliger Basis unter Wahrung der eigenen Interessen.
Deshalb ist es unbedingt erforderlich, dass Deutschland als Staat und Gesellschaft eigene Interessen definiert und auch verfolgt. Nur so kann Fremdenfeindlichkeit und übersteigertem Nationalismus vorgebeugt werden. Und Deutschland, das ein viel offeneres Land ist, als die meisten seiner Bewohner annehmen, könnte dadurch von den Früchten seiner Weltoffenheit üppiger profitieren.
Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, schreibt regelmäßig für "die tageszeitung" sowie für andere Zeitungen (u. a. "Berliner Zeitung", "Die Welt"). Arbeiten von Zafer Senocak wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische (u. Amerikanische), Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift "Sirene" wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u. a. "Fernwehanstalten" 1994. Nâzım Hikmet: "Auf dem Schiff zum Mars" Zusammen mit Berkan Karpat,1998. "Tanzende der Elektrik. Szenisches Poem." Zusammen mit Berkan Karpat, 1999. "Die Tetralogie. Der Mann im Unterhemd" Prosa. Berlin (Babel) 1995. "Die Prärie." Hamburg (Rotbuch) 1997. Gefährliche Verwandtschaft. Roman. München (Babel) 1998. "Der Erottomane" Ein Findelbuch. München (Babel) 1999. "Atlas des tropischen Deutschland" Essays. Berlin (Babel) 1992, 1993. "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas" Essays. Berlin (Babel) 1994. "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation" München (Babel) 2001.
Betrachtet man das vergangene halbe Jahrhundert, so kann man feststellen, dass die deutsche Politik und Gesellschaft auf das Phänomen der Zuwanderung bestenfalls paralysiert reagiert hat. Verschreckt durch die Last der Geschichte, das Scheitern eines deutschen Nationalstaates auf demokratischer Grundlage hatte die Bundesrepublik wenige Instrumentarien zur Hand, um den Einwanderungsprozess zu gestalten.
Die Gastarbeiter, die man rief, blieben auch lange nach dem sie schon nicht mehr gebraucht wurden, aber nicht nur das, es kamen über das liberale Asylrecht, das auch ein Zugeständnis an die Erfahrungen aus der deutschen Geschichte war, weitere Millionen Menschen nach Deutschland, unabhängig von Qualifikation, Alter, Geschlecht.
Ergebnis: Deutschland muss diese Menschen, ihre Kinder und Familien jetzt integrieren, in einen Arbeitsmarkt, der praktisch nicht mehr vorhanden ist, in ein Bildungssystem, das kränkelt, in ein deutsches Selbstverständnis, das alles andere als selbstsicher ist.
Wie ein Hohn klingen da Debatten darüber, ob die Multikulti-Gesellschaft gescheitert sei oder nicht, ob Grüne oder Christdemokraten die Verantwortung für die gegenwärtige, ausweglos scheinende Lage tragen.
Etwas ganz anderes wäre heute dringend nötig: Wir müssen endlich begreifen, dass jeder Einwanderungsprozess eine Gesellschaft nachhaltig verändert und dass niemand ein Rezept in der Hand hält, das alle Probleme über Nacht lösen kann. Im Gegenteil, es wird sehr lange dauern, bis die deutsche Gesellschaft das gegenwärtige Erscheinungsbild verdaut, und am Ende wird wahrscheinlich keine klassische Assimilation der Zugewanderten stehen, sondern ein anderes Deutschland. Deutsche, die anders sind, als wir sie heute wahrnehmen.
Die entscheidende Frage ist, ob die deutsche Gesellschaft bereit ist, diesen Weg zu gehen, der zugleich ein Weg in das 21. Jahrhundert ist. Mit anderen Worten, die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, ob wir lernen mit dem Phänomen der Masseneinwanderung unter den Bedingungen einer globalisierten, vernetzten, medial gelenkten Wirklichkeit zurecht zu kommen.
Gelingen kann dieser Prozess nur, wenn die Interessen Deutschlands mit den Interessen der Zuwanderer in Einklang gebracht werden und dort, wo sie nicht im Einklang miteinander stehen, bedürfte es einer offenen Diskussion und der Verhandlung. Jede moderne, demokratische Gesellschaft ist ein Vertragswerk, das ausgehandelt werden muss, auf freiwilliger Basis unter Wahrung der eigenen Interessen.
Deshalb ist es unbedingt erforderlich, dass Deutschland als Staat und Gesellschaft eigene Interessen definiert und auch verfolgt. Nur so kann Fremdenfeindlichkeit und übersteigertem Nationalismus vorgebeugt werden. Und Deutschland, das ein viel offeneres Land ist, als die meisten seiner Bewohner annehmen, könnte dadurch von den Früchten seiner Weltoffenheit üppiger profitieren.
Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, schreibt regelmäßig für "die tageszeitung" sowie für andere Zeitungen (u. a. "Berliner Zeitung", "Die Welt"). Arbeiten von Zafer Senocak wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische (u. Amerikanische), Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift "Sirene" wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u. a. "Fernwehanstalten" 1994. Nâzım Hikmet: "Auf dem Schiff zum Mars" Zusammen mit Berkan Karpat,1998. "Tanzende der Elektrik. Szenisches Poem." Zusammen mit Berkan Karpat, 1999. "Die Tetralogie. Der Mann im Unterhemd" Prosa. Berlin (Babel) 1995. "Die Prärie." Hamburg (Rotbuch) 1997. Gefährliche Verwandtschaft. Roman. München (Babel) 1998. "Der Erottomane" Ein Findelbuch. München (Babel) 1999. "Atlas des tropischen Deutschland" Essays. Berlin (Babel) 1992, 1993. "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas" Essays. Berlin (Babel) 1994. "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation" München (Babel) 2001.