Am Ende der Katastrophe

    Von Christian Rabhansl · 20.03.2007
    Es war im Herbst des Jahres 1946: Europa war noch traumatisiert vom Zweiten Weltkrieg, aber der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill richtete den Blick nach vorn. Er forderte die Schaffung der "Vereinigten Staaten von Europa".
    Nicht einmal anderthalb Jahre waren seit dem verheerenden Zweiten Weltkrieg vergangen. Winston Churchill, bis Kriegsende britischer Premier und erbitterter Feind Deutschlands, war seit seiner Abwahl Oppositionsführer im britischen Unterhaus. Im September 1946 machte er Urlaub und malte Bilder in der Schweiz.

    Am 19. September ist sein Urlaub zu Ende, Churchill hält an der Universität Zürich eine "Rede an die akademische Jugend". Schonungslos beschreibt er die gefährliche Situation, in der sich Europa befindet – ein Europa, in dem Massen hungriger und verzweifelter Menschen durch zerstörte Städte irren.

    "Over wide areas a vast quivering mass of tormented, hungry, care-worn and bewildered human beings gape at the ruins of their cities and their homes, and scan the dark horizons for the approach of some new peril, tyranny or terror."

    Churchill sucht einen Ausweg, damit die Verzweiflung der Menschen nicht in eine neue Tyrannei mündet – und er formuliert einen kühnen Gedanken:

    "We must build a kind of United States of Europe."

    "Wir müssen so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa aufbauen." Die Idee ist nicht neu. Schon Immanuel Kant und Victor Hugo hatten sie propagiert. Und in der Weimarer Republik verabschiedete die SPD 1925 ein Parteiprogramm, das als Ziel die Vereinigten Staaten von Europa nannte. Doch das waren Visionen für eine fernere Zukunft.

    Nun aber, da Europa nach dem zweiten Weltkrieg zerstört ist wie nie zuvor, macht Churchill klar, dass für eine dauerhafte Friedenslösung die Vision Wirklichkeit werden muss. Und er nennt die wichtigste Voraussetzung für eine europäische Einigung:

    "I am now going to say something that will astonish you. The first step in the re-creation of the European Family must be a partnership between France and Germany."

    Eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland.

    "In this way only can France recover the moral and cultural leadership of Europe. There can be no revival of Europe without a spiritually great France and a spiritually great Germany."

    Frankreich soll die moralisch-kulturelle Führung übernehmen. Die beiden verfeindeten Nachbarländer sollen geistige Wegbereiter eines neuen Europa sein.

    Das war ein aufregender Gedanke, nachdem Deutschland und Frankreich drei Kriege gegeneinander ausgetragen hatten und Frankreich von Hitlerdeutschland gedemütigt worden war. Das offizielle Paris und die französische Presse reagierten empört auf den Vorschlag. Der Friede in Europa hänge nach dem Ende des Krieges nicht mehr vom französisch-deutschen Verhältnis ab, so die Antwort. Sondern davon, ob eine ganz andere Rivalität bald beendet würde: die zwischen der Sowjetunion auf der einen Seite und den USA und Großbritannien auf der anderen. Der heraufziehende Kalte Krieg.

    In Deutschland war Konrad Adenauer offen für den Gedanken einer deutsch-französischen Aussöhnung als Kern einer europäischen Einigung. Aber Adenauer hatte noch wenig zu sagen. Er war lediglich CDU-Chef in der britischen Besatzungszone. So hing nach Churchills Rede in Zürich alles von Frankreich ab.

    Würden die Franzosen wieder, wie nach 1918, versuchen, Deutschland klein zu halten? Würde sich wieder ein gefährlicher Hass zwischen Deutschland und Frankreich auftürmen? Würde sich die Geschichte wiederholen? Das schien 1946 eine ernstzunehmende Gefahr zu sein. Keiner erkannte sie so deutlich wie Winston Churchill – deshalb forderte er eine Wiederauferstehung Europas:

    "Therefore I say to you: let Europe arise!"