Am Ende
Einst war Stockton eine blühende Metropole. Doch im vergangenen Sommer hat die kalifornische Stadt Insolvenz angemeldet, als Folge der Immobilienblase. Nun gilt Stockton mit 70 Morden in 2012 als eine der zehn gefährlichsten Städte der USA. Der neue Bürgermeister sucht Wege aus der Krise.
Wir sind durch die Hölle gegangen, sagt die ehemalige Bürgermeisterin.
Ich habe in den vergangenen drei Jahren mehr junge Menschen beerdigt als je zuvor, erzählt der Pfarrer. Und ich, sagt der Fernsehreporter, habe in dieser Stadt noch nie so viel Angst erlebt, bei ganz normalen Leuten.
Diese Stadt, das ist Stockton, Kalifornien. Eine Stadt, die den amerikanischen Alptraum erlebt: Firmeninsolvenzen, steigende Arbeitslosigkeit, wachsende Armut, Zwangsversteigerungen. All das hat es auch in anderen amerikanischen Städten gegeben. Doch kaum eine Stadt hat es so hart getroffen wie das einst boomende Stockton. Eine Stadt, die einmal stolz war, es zu etwas gebracht zu haben. In die junge Familien zogen, für die Tausende neue Einfamilienhäuser gebaut wurden. In der die Steuereinnahmen sprudelten und die Gehälter stetig stiegen. Davon ist heute nichts mehr zu spüren – im Gegenteil.
"Ich bin nie alleine unterwegs. Mein Pfefferspray habe ich immer dabei. Ich bin hier aufgewachsen, eigentlich kenne ich die Orte, an denen es sicher ist – aber in letzter Zeit ist es hier nirgendwo mehr sicher."
Diana Foster und ihre Freundin sind auf dem Heimweg. Nach Einbruch der Dunkelheit möchten die beiden Frauen nicht mehr draußen unterwegs sein. Denn selbst hier im Victory-Park, einem wohlhabenden Wohnviertel, ist vor kurzem ein Rentner erschossen worden. Mit 70 Morden im Jahr 2012 gehört Stockton inzwischen zu den zehn gefährlichsten Städten der USA.
Officer Joseph Silva ist seit dem frühen Morgen im Dienst. In seinem kleinen Büro stapeln sich die Akten. Der 39-jährige Polizist weiß, dass viele Fälle ungelöst sind. Dass die Angst in Stockton wächst. Dass mehr Polizisten auf den Straßen gebraucht werden. Joseph Silva weiß aber auch, dass Abhilfe nicht in Sicht ist. Die Stadt ist pleite. Ein Viertel der Stellen im Polizeirevier wurde bereits gestrichen, mehrere Ein-heiten aufgelöst. Und nicht nur das:
"Seit wir sparen müssen, haben viele Polizisten gekündigt, weil die Gehälter gekürzt wurden - um bis zu 30 Prozent innerhalb von anderthalb Jahren! Das ist wirklich eine Menge. Viele haben das finanziell nicht verkraftet. Sie mussten sich woanders einen Job suchen, um ihre Familie ernähren zu können."
Von ehemals 450 Polizisten sind heute noch 320 im Dienst. Zu wenig für eine Stadt wie Stockton, sagt Officer Joseph Silva. Immer noch zu viel für eine Stadt, die bankrott ist, sagt die ehemalige Bürgermeisterin Ann Johnston:
"Wir sind in den vergangenen vier Jahren durch die Hölle gegangen. Das gebe ich offen zu. Kein Bürgermeister will, dass so etwas seiner Stadt passiert."
Nachdenklich blickt die 70-Jährige aus dem Fenster ihres Büros auf den halbleeren Parkplatz vor dem Rathaus. Die Demokratin wirkt, als könne sie sich bis heute den Niedergang der Stadt in den vergangenen Jahren nicht recht erklären. Ann Johnston ist schon lange in der Politik, hat die Aufbruchsstimmung in Stockton miterlebt.
"Als das Geld noch geflossen ist, hat die Stadt entschieden, prestigereiche Bauprojekte anzugehen: eine große Arena, ein Stadion, Gemeindezentren. Lauter Sachen, die die Stadt attraktiver machen sollten."
Damals saß Ann Johnston noch im Stadtrat. Damals war auch sie davon überzeugt, dass das der richtige Weg war. Auch sie glaubte an eine vielversprechende Zukunft für Stockton.
Fernsehreporter Tim Daly hat den Bau von Konzertarena und Baseballstadion vom Balkon seines Studios aus beobachten können und miterlebt, wie die Stadt gewachsen ist. Er arbeitet seit über 20 Jahren für den Regionalsender News 10.
"Stockton hat das erlebt, was viele amerikanische Städte erlebt haben: Einen unglaublichen Boom auf dem Immobilienmarkt. Überall wurden Tausende neue Häuser gebaut, die an junge Familien verkauft werden sollten. Eine Weile klappte das auch – und die Leute haben geglaubt: Das wird immer so weiter gehen."
Doch dann brach die amerikanische Wirtschaft zusammen. Statt junger Mittelklasse-Familien kamen die Zwangsvollstrecker. Dort, wo Gartenmöbel hätten stehen sollen, wurden Schilder in den Rasen gerammt mit der Aufschrift: "Zu verkaufen". Heute sind auch die Arena und das Stadion nicht einmal ansatzweise ausgelastet. Was das Aushängeschild der 300.000-Einwohnerstadt werden sollte, ist inzwischen das Symbol einer Stadt, die über ihre Verhältnisse gelebt hat. Und zwar Jahrzehnte lang. Als Ann Johnston Anfang 2009 Bürgermeisterin wird, sind die Anzeichen der Krise schon nicht mehr zu übersehen. Doch viel kann sie nicht dagegen tun: Die Stadt hat keine Rücklagen.
"Was da schief gelaufen ist? Wir haben unseren Angestellten und Pensionären zwanzig Jahre lang sehr großzügige Gehälter und Zulagen gezahlt, die immer weiter gestiegen sind – das haben andere Städte nicht getan."
Hinzu kommen faule Kredite, die die Stadt für ihre Großprojekte aufgenommen hat und weiterhin bedienen muss. Wie ernst die Lage ist, wird Ann Johnston erst nach und nach bewusst:
"Wir wussten, wie es ist, wenn die Wirtschaft schwächelt. Aber wenn man früher mal ein paar Dinge hinausgezögert hat, war das nach ein, zwei Jahren überstanden. Doch dieses Mal war klar: Es wird nicht besser. Also mussten wir ein paar wirklich harte Entscheidungen treffen."
In Folge spart die Stadt, wo sie nur kann. Entlässt nicht nur Polizisten, sondern auch Feuerwehrleute und andere städtische Angestellte. Kürzt denen, die bleiben, nicht nur das Gehalt, sondern auch die Beihilfen zur Gesundheitsversorgung und die Rentenansprüche. Und trifft damit vor allem die Mittelklasse. Schließt Schwimmbäder und Bibliotheken. Und bekommt die Finanzen trotzdem nicht in den Griff. Schließlich trifft Bürgermeisterin Ann Johnston eine Entscheidung: Sie erklärt Stockton im Juni 2012 für bankrott. Jetzt muss ein Gericht entscheiden, ob die Stadt tatsächlich insolvent ist.
Für die Menschen, die an diesem Vormittag unter einer Autobahnbrücke Schlange stehen, spielt es keine Rolle mehr, ob die Stadt tatsächlich pleite ist oder nicht. Sie wissen schon jetzt nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Geduldig warten sie, bis sie bei der Lebensmittelverteilung an der Reihe sind, um einen Plastiksack mit Äpfeln, Salat, Brot, Keksen und Konserven entgegennehmen zu können.
Henry White schiebt den Kinderwagen mit seinen Zwillingssöhnen Richtung Ausgabestelle. Er und seine Freundin kommen einmal im Monat zur "Emergency Food Bank" im Süden der Stadt. Am liebsten würden sie häufiger kommen, gerade zum Monatsende reicht das Geld oft nicht. Doch bei Rebecca Knodt und ihrem Team stehen täglich bis zu 300 Familien um Lebensmittel an. Und die sind knapp, vor allem nach Weihnachten.
"Die Menschen müssen ja auch von Januar bis November etwas essen. Das Traurige ist, dass wir in den Monaten nach Weihnachten häufig nicht genug Lebensmittel haben."
Dabei ist die Zahl der Menschen, die sich gezwungen sehen, jeden Monat für Brot, Gemüse und Fleisch anzustehen, seit Beginn der Finanzkrise gewachsen - um 40 Prozent.
"Viele Leute haben zwar einen Job, können sich damit aber kaum über Wasser halten. Wenn sie ihn verlieren, wissen sie nicht, wie sie ihre Familie versorgen sollen. Manchmal stehen sie vor der Entscheidung, ob sie ihrem Kind etwas zu essen kaufen oder es zum Arzt schicken. Ob sie selbst etwas essen oder zu Gunsten ihres Kindes verzichten. Das sind wirklich harte Zeiten."
Ein paar Kilometer weiter südlich in der Progressive Community Church. Der imposante Neubau wirkt wie ein Fremdkörper in diesem Stadtteil. Einem Stadtteil, der geprägt ist von kleinen schlichten Häusern ohne jeden Luxus.
Pastor Glen Shields und seine Gemeinde haben sich bewusst für den Süden der Stadt entschieden, als es darum ging, eine neue Kirche zu bauen – eine Kirche, in der nicht nur Gottesdienste gefeiert werden:
"Wir haben hier auch eine Suppenküche, so dass wir die Menschen in der Ge-meinde mit Essen versorgen können. Wir wollten hier etwas bewegen. Deshalb haben wir hier so viel Platz."
Platz nicht nur für die Küche, sondern auch für eine Kinderkrippe, für Bibelstunden und Computerkurse, für Gospelkonzerte, Hochzeiten und Familienfeiern. Der 50-Jährige Pastor will, dass die Räumlichkeiten nicht nur von den etwa 2000 Gemeindemitgliedern genutzt werden. Glen Shields möchte den staatlichen Streichungen etwas entgegen setzen. Er kennt die Not der Menschen in Stockton:
"Die Immobilienkrise, die Zwangsversteigerungen, die steigende Arbeitslosigkeit hat viele Familien in den Ruin getrieben. Erst haben sie sich ums Geld gesorgt, dann ihren Job verloren, dann auch noch ihr Haus – das alles muss man psychisch erst einmal verkraften."
Diesem Druck halten viele Familien nicht stand, erzählt der Pastor. Sie brechen aus-einander. Glen Shields sorgt sich vor allem um die Jugendlichen, die sich, auf der Suche nach Zusammenhalt und Anerkennung, häufig einer der zahlreichen kriminellen und gewalttätigen Gangs anschließen. Und damit ihr Leben aufs Spiel setzen:
"Ich habe in den vergangenen drei Jahren mehr junge Menschen beerdigt als je zuvor. Es bricht mir jedes Mal das Herz. Und nicht nur mir."
Auch deshalb ist der ehemalige Polizist Pastor geworden. Der vierfache Vater wollte die Jugendlichen nicht mehr verhaften, sondern in die Verantwortung nehmen – mit Hilfe der Gemeinde:
"Ich bin voller Hoffnung, dass sich etwas ändern wird. Jetzt geht es darum, dass wir alle zusammenarbeiten, dass wir uns systematisch darum bemühen, das Blatt zu wenden."
Auf politischer Ebene hat sich das Blatt bereits gewendet. Bei der Bürgermeisterwahl im November ist Ann Johnston abgewählt worden. Mit einem deutlichen Ergebnis. Denn für viele ist die 70-Jährige das Gesicht der Krise. Ann Johnston kann es den Wählern nicht einmal verdenken.
"Die Leute wollen Ergebnisse sehen. Sie wollen, dass sich sofort etwas ändert. Auch ich hätte nichts lieber gewollt. Aber es kommt eben auf die Wirtschaft an. Und der Wirtschaft geht es schlecht, vor allem hier, mitten in Kalifornien."
Gerade deshalb sei es richtig gewesen, Insolvenz anzumelden – denn weitere Ein-schnitte und Stellenstreichungen wollte Ann Johnston niemandem mehr zumuten. Ihr Nachfolger Anthony Silva glaubt dagegen nicht, dass der Insolvenzantrag nötig gewesen wäre.
"Viele Antworten auf die Krise finden sich bei uns, in Stockton. Es gibt hier eine Reihe von Unternehmern, die erlebt haben, wie schwierig es ist, die Löhne zu zahlen. Die harte Entscheidungen treffen mussten. Und die ihren Unternehmen trotzdem die Pleite erspart haben."
Auch die massiven Stellenstreichungen bei der Polizei hält der 38-Jährige für einen Fehler. Er hat Wahlkampf gemacht mit dem Versprechen, wieder mehr Polizisten einzustellen. Und damit die Bürgermeisterwahl im November gewonnen. Der Republikaner will dafür erst einmal auf sein Gehalt verzichten. Doch auch von den Bürgern fordert er Verzicht und will in der bankrotten Stadt die Steuern erhöhen. Denn von einem ist er überzeugt:
"Die Leute sind bereit, für ihren Schutz zu zahlen. Sie sind bereit, alles dafür zu tun, damit die Stadt wieder sicherer wird und wir uns nicht mehr schämen müssen zu sagen: Wir kommen aus Stockton. Wir wollen, dass Stockton wieder auf die Füße kommt und dass es wieder eine großartige amerikanische Stadt wird."
Anzeichen dafür, dass die Stadt die Krise bald überwunden haben wird, gibt es keine. Auch wenn schon als Erfolg vermeldet wird, dass die Arbeitslosigkeit gesunken ist, von 20 auf 16 Prozent. Ob die Menschen aber tatsächlich bereit sind, für ihre Sicherheit zu zahlen - Fernsehreporter Tim Daly hat Zweifel.
"Heißt das nun, dass der neue Stadtrat die Gehälter wieder erhöht und Leute einstellt, die sich die Stadt nicht leisten kann? Wir wissen es nicht. Ich wünschte, ich könnte sagen: Dafür steht Anthony Silva. Aber das einzige, was ich über ihn weiß, ist, dass er schon häufiger kandidiert hat. Normalerweise hat er verloren. Dieses Mal hat er gewonnen.
Jetzt wird von Bürgermeister Anthony Silva viel erwartet. Die Wähler werden ihn daran messen, ob sich in Stockton wieder mehr Unternehmen an-siedeln, die Menschen Jobs finden, junge Familien in die Stadt ziehen und das Baseballstadion und die Konzertarena beleben. Und ob die Stadt wieder sicherer wird."
Bis dahin muss Officer Joseph Silva mit den Mitteln auskommen, die ihm zur Verfügung stehen – und erfinderisch sein. Er hat für das Police Department eine Seite beim sozialen Netzwerk Facebook eingerichtet. So kann jeder schnell und direkt Kontakt zur Polizei in Stockton aufnehmen – auf diesem Weg erhält Joseph Silva Tipps und Täterbeschreibungen. Bis er wieder auf mehr Personal zurückgreifen kann, wird es noch lange dauern, glaubt er. Länger als eine Amtszeit.
"Ich hoffe, dass wir in fünf Jahren die finanzielle Misere der vergangenen Zeit hinter uns gelassen haben, so dass wir in zehn Jahren vielleicht wirklich mehr Jobs und mehr Polizisten auf den Straßen haben. Damit unsere Stadt wieder sicher ist."
Mehr auf dradio.de:
Angst vor dem Fiscal Cliff in den amerikanischen Kommunen - Die Pleite der kalifornischen Stadt Stockton
Ich habe in den vergangenen drei Jahren mehr junge Menschen beerdigt als je zuvor, erzählt der Pfarrer. Und ich, sagt der Fernsehreporter, habe in dieser Stadt noch nie so viel Angst erlebt, bei ganz normalen Leuten.
Diese Stadt, das ist Stockton, Kalifornien. Eine Stadt, die den amerikanischen Alptraum erlebt: Firmeninsolvenzen, steigende Arbeitslosigkeit, wachsende Armut, Zwangsversteigerungen. All das hat es auch in anderen amerikanischen Städten gegeben. Doch kaum eine Stadt hat es so hart getroffen wie das einst boomende Stockton. Eine Stadt, die einmal stolz war, es zu etwas gebracht zu haben. In die junge Familien zogen, für die Tausende neue Einfamilienhäuser gebaut wurden. In der die Steuereinnahmen sprudelten und die Gehälter stetig stiegen. Davon ist heute nichts mehr zu spüren – im Gegenteil.
"Ich bin nie alleine unterwegs. Mein Pfefferspray habe ich immer dabei. Ich bin hier aufgewachsen, eigentlich kenne ich die Orte, an denen es sicher ist – aber in letzter Zeit ist es hier nirgendwo mehr sicher."
Diana Foster und ihre Freundin sind auf dem Heimweg. Nach Einbruch der Dunkelheit möchten die beiden Frauen nicht mehr draußen unterwegs sein. Denn selbst hier im Victory-Park, einem wohlhabenden Wohnviertel, ist vor kurzem ein Rentner erschossen worden. Mit 70 Morden im Jahr 2012 gehört Stockton inzwischen zu den zehn gefährlichsten Städten der USA.
Officer Joseph Silva ist seit dem frühen Morgen im Dienst. In seinem kleinen Büro stapeln sich die Akten. Der 39-jährige Polizist weiß, dass viele Fälle ungelöst sind. Dass die Angst in Stockton wächst. Dass mehr Polizisten auf den Straßen gebraucht werden. Joseph Silva weiß aber auch, dass Abhilfe nicht in Sicht ist. Die Stadt ist pleite. Ein Viertel der Stellen im Polizeirevier wurde bereits gestrichen, mehrere Ein-heiten aufgelöst. Und nicht nur das:
"Seit wir sparen müssen, haben viele Polizisten gekündigt, weil die Gehälter gekürzt wurden - um bis zu 30 Prozent innerhalb von anderthalb Jahren! Das ist wirklich eine Menge. Viele haben das finanziell nicht verkraftet. Sie mussten sich woanders einen Job suchen, um ihre Familie ernähren zu können."
Von ehemals 450 Polizisten sind heute noch 320 im Dienst. Zu wenig für eine Stadt wie Stockton, sagt Officer Joseph Silva. Immer noch zu viel für eine Stadt, die bankrott ist, sagt die ehemalige Bürgermeisterin Ann Johnston:
"Wir sind in den vergangenen vier Jahren durch die Hölle gegangen. Das gebe ich offen zu. Kein Bürgermeister will, dass so etwas seiner Stadt passiert."
Nachdenklich blickt die 70-Jährige aus dem Fenster ihres Büros auf den halbleeren Parkplatz vor dem Rathaus. Die Demokratin wirkt, als könne sie sich bis heute den Niedergang der Stadt in den vergangenen Jahren nicht recht erklären. Ann Johnston ist schon lange in der Politik, hat die Aufbruchsstimmung in Stockton miterlebt.
"Als das Geld noch geflossen ist, hat die Stadt entschieden, prestigereiche Bauprojekte anzugehen: eine große Arena, ein Stadion, Gemeindezentren. Lauter Sachen, die die Stadt attraktiver machen sollten."
Damals saß Ann Johnston noch im Stadtrat. Damals war auch sie davon überzeugt, dass das der richtige Weg war. Auch sie glaubte an eine vielversprechende Zukunft für Stockton.
Fernsehreporter Tim Daly hat den Bau von Konzertarena und Baseballstadion vom Balkon seines Studios aus beobachten können und miterlebt, wie die Stadt gewachsen ist. Er arbeitet seit über 20 Jahren für den Regionalsender News 10.
"Stockton hat das erlebt, was viele amerikanische Städte erlebt haben: Einen unglaublichen Boom auf dem Immobilienmarkt. Überall wurden Tausende neue Häuser gebaut, die an junge Familien verkauft werden sollten. Eine Weile klappte das auch – und die Leute haben geglaubt: Das wird immer so weiter gehen."
Doch dann brach die amerikanische Wirtschaft zusammen. Statt junger Mittelklasse-Familien kamen die Zwangsvollstrecker. Dort, wo Gartenmöbel hätten stehen sollen, wurden Schilder in den Rasen gerammt mit der Aufschrift: "Zu verkaufen". Heute sind auch die Arena und das Stadion nicht einmal ansatzweise ausgelastet. Was das Aushängeschild der 300.000-Einwohnerstadt werden sollte, ist inzwischen das Symbol einer Stadt, die über ihre Verhältnisse gelebt hat. Und zwar Jahrzehnte lang. Als Ann Johnston Anfang 2009 Bürgermeisterin wird, sind die Anzeichen der Krise schon nicht mehr zu übersehen. Doch viel kann sie nicht dagegen tun: Die Stadt hat keine Rücklagen.
"Was da schief gelaufen ist? Wir haben unseren Angestellten und Pensionären zwanzig Jahre lang sehr großzügige Gehälter und Zulagen gezahlt, die immer weiter gestiegen sind – das haben andere Städte nicht getan."
Hinzu kommen faule Kredite, die die Stadt für ihre Großprojekte aufgenommen hat und weiterhin bedienen muss. Wie ernst die Lage ist, wird Ann Johnston erst nach und nach bewusst:
"Wir wussten, wie es ist, wenn die Wirtschaft schwächelt. Aber wenn man früher mal ein paar Dinge hinausgezögert hat, war das nach ein, zwei Jahren überstanden. Doch dieses Mal war klar: Es wird nicht besser. Also mussten wir ein paar wirklich harte Entscheidungen treffen."
In Folge spart die Stadt, wo sie nur kann. Entlässt nicht nur Polizisten, sondern auch Feuerwehrleute und andere städtische Angestellte. Kürzt denen, die bleiben, nicht nur das Gehalt, sondern auch die Beihilfen zur Gesundheitsversorgung und die Rentenansprüche. Und trifft damit vor allem die Mittelklasse. Schließt Schwimmbäder und Bibliotheken. Und bekommt die Finanzen trotzdem nicht in den Griff. Schließlich trifft Bürgermeisterin Ann Johnston eine Entscheidung: Sie erklärt Stockton im Juni 2012 für bankrott. Jetzt muss ein Gericht entscheiden, ob die Stadt tatsächlich insolvent ist.
Für die Menschen, die an diesem Vormittag unter einer Autobahnbrücke Schlange stehen, spielt es keine Rolle mehr, ob die Stadt tatsächlich pleite ist oder nicht. Sie wissen schon jetzt nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Geduldig warten sie, bis sie bei der Lebensmittelverteilung an der Reihe sind, um einen Plastiksack mit Äpfeln, Salat, Brot, Keksen und Konserven entgegennehmen zu können.
Henry White schiebt den Kinderwagen mit seinen Zwillingssöhnen Richtung Ausgabestelle. Er und seine Freundin kommen einmal im Monat zur "Emergency Food Bank" im Süden der Stadt. Am liebsten würden sie häufiger kommen, gerade zum Monatsende reicht das Geld oft nicht. Doch bei Rebecca Knodt und ihrem Team stehen täglich bis zu 300 Familien um Lebensmittel an. Und die sind knapp, vor allem nach Weihnachten.
"Die Menschen müssen ja auch von Januar bis November etwas essen. Das Traurige ist, dass wir in den Monaten nach Weihnachten häufig nicht genug Lebensmittel haben."
Dabei ist die Zahl der Menschen, die sich gezwungen sehen, jeden Monat für Brot, Gemüse und Fleisch anzustehen, seit Beginn der Finanzkrise gewachsen - um 40 Prozent.
"Viele Leute haben zwar einen Job, können sich damit aber kaum über Wasser halten. Wenn sie ihn verlieren, wissen sie nicht, wie sie ihre Familie versorgen sollen. Manchmal stehen sie vor der Entscheidung, ob sie ihrem Kind etwas zu essen kaufen oder es zum Arzt schicken. Ob sie selbst etwas essen oder zu Gunsten ihres Kindes verzichten. Das sind wirklich harte Zeiten."
Ein paar Kilometer weiter südlich in der Progressive Community Church. Der imposante Neubau wirkt wie ein Fremdkörper in diesem Stadtteil. Einem Stadtteil, der geprägt ist von kleinen schlichten Häusern ohne jeden Luxus.
Pastor Glen Shields und seine Gemeinde haben sich bewusst für den Süden der Stadt entschieden, als es darum ging, eine neue Kirche zu bauen – eine Kirche, in der nicht nur Gottesdienste gefeiert werden:
"Wir haben hier auch eine Suppenküche, so dass wir die Menschen in der Ge-meinde mit Essen versorgen können. Wir wollten hier etwas bewegen. Deshalb haben wir hier so viel Platz."
Platz nicht nur für die Küche, sondern auch für eine Kinderkrippe, für Bibelstunden und Computerkurse, für Gospelkonzerte, Hochzeiten und Familienfeiern. Der 50-Jährige Pastor will, dass die Räumlichkeiten nicht nur von den etwa 2000 Gemeindemitgliedern genutzt werden. Glen Shields möchte den staatlichen Streichungen etwas entgegen setzen. Er kennt die Not der Menschen in Stockton:
"Die Immobilienkrise, die Zwangsversteigerungen, die steigende Arbeitslosigkeit hat viele Familien in den Ruin getrieben. Erst haben sie sich ums Geld gesorgt, dann ihren Job verloren, dann auch noch ihr Haus – das alles muss man psychisch erst einmal verkraften."
Diesem Druck halten viele Familien nicht stand, erzählt der Pastor. Sie brechen aus-einander. Glen Shields sorgt sich vor allem um die Jugendlichen, die sich, auf der Suche nach Zusammenhalt und Anerkennung, häufig einer der zahlreichen kriminellen und gewalttätigen Gangs anschließen. Und damit ihr Leben aufs Spiel setzen:
"Ich habe in den vergangenen drei Jahren mehr junge Menschen beerdigt als je zuvor. Es bricht mir jedes Mal das Herz. Und nicht nur mir."
Auch deshalb ist der ehemalige Polizist Pastor geworden. Der vierfache Vater wollte die Jugendlichen nicht mehr verhaften, sondern in die Verantwortung nehmen – mit Hilfe der Gemeinde:
"Ich bin voller Hoffnung, dass sich etwas ändern wird. Jetzt geht es darum, dass wir alle zusammenarbeiten, dass wir uns systematisch darum bemühen, das Blatt zu wenden."
Auf politischer Ebene hat sich das Blatt bereits gewendet. Bei der Bürgermeisterwahl im November ist Ann Johnston abgewählt worden. Mit einem deutlichen Ergebnis. Denn für viele ist die 70-Jährige das Gesicht der Krise. Ann Johnston kann es den Wählern nicht einmal verdenken.
"Die Leute wollen Ergebnisse sehen. Sie wollen, dass sich sofort etwas ändert. Auch ich hätte nichts lieber gewollt. Aber es kommt eben auf die Wirtschaft an. Und der Wirtschaft geht es schlecht, vor allem hier, mitten in Kalifornien."
Gerade deshalb sei es richtig gewesen, Insolvenz anzumelden – denn weitere Ein-schnitte und Stellenstreichungen wollte Ann Johnston niemandem mehr zumuten. Ihr Nachfolger Anthony Silva glaubt dagegen nicht, dass der Insolvenzantrag nötig gewesen wäre.
"Viele Antworten auf die Krise finden sich bei uns, in Stockton. Es gibt hier eine Reihe von Unternehmern, die erlebt haben, wie schwierig es ist, die Löhne zu zahlen. Die harte Entscheidungen treffen mussten. Und die ihren Unternehmen trotzdem die Pleite erspart haben."
Auch die massiven Stellenstreichungen bei der Polizei hält der 38-Jährige für einen Fehler. Er hat Wahlkampf gemacht mit dem Versprechen, wieder mehr Polizisten einzustellen. Und damit die Bürgermeisterwahl im November gewonnen. Der Republikaner will dafür erst einmal auf sein Gehalt verzichten. Doch auch von den Bürgern fordert er Verzicht und will in der bankrotten Stadt die Steuern erhöhen. Denn von einem ist er überzeugt:
"Die Leute sind bereit, für ihren Schutz zu zahlen. Sie sind bereit, alles dafür zu tun, damit die Stadt wieder sicherer wird und wir uns nicht mehr schämen müssen zu sagen: Wir kommen aus Stockton. Wir wollen, dass Stockton wieder auf die Füße kommt und dass es wieder eine großartige amerikanische Stadt wird."
Anzeichen dafür, dass die Stadt die Krise bald überwunden haben wird, gibt es keine. Auch wenn schon als Erfolg vermeldet wird, dass die Arbeitslosigkeit gesunken ist, von 20 auf 16 Prozent. Ob die Menschen aber tatsächlich bereit sind, für ihre Sicherheit zu zahlen - Fernsehreporter Tim Daly hat Zweifel.
"Heißt das nun, dass der neue Stadtrat die Gehälter wieder erhöht und Leute einstellt, die sich die Stadt nicht leisten kann? Wir wissen es nicht. Ich wünschte, ich könnte sagen: Dafür steht Anthony Silva. Aber das einzige, was ich über ihn weiß, ist, dass er schon häufiger kandidiert hat. Normalerweise hat er verloren. Dieses Mal hat er gewonnen.
Jetzt wird von Bürgermeister Anthony Silva viel erwartet. Die Wähler werden ihn daran messen, ob sich in Stockton wieder mehr Unternehmen an-siedeln, die Menschen Jobs finden, junge Familien in die Stadt ziehen und das Baseballstadion und die Konzertarena beleben. Und ob die Stadt wieder sicherer wird."
Bis dahin muss Officer Joseph Silva mit den Mitteln auskommen, die ihm zur Verfügung stehen – und erfinderisch sein. Er hat für das Police Department eine Seite beim sozialen Netzwerk Facebook eingerichtet. So kann jeder schnell und direkt Kontakt zur Polizei in Stockton aufnehmen – auf diesem Weg erhält Joseph Silva Tipps und Täterbeschreibungen. Bis er wieder auf mehr Personal zurückgreifen kann, wird es noch lange dauern, glaubt er. Länger als eine Amtszeit.
"Ich hoffe, dass wir in fünf Jahren die finanzielle Misere der vergangenen Zeit hinter uns gelassen haben, so dass wir in zehn Jahren vielleicht wirklich mehr Jobs und mehr Polizisten auf den Straßen haben. Damit unsere Stadt wieder sicher ist."
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