Am Anfang stehn die "armen Leut"

Von Frieder Reininghaus · 14.05.2010
1837, kurz vor seinem frühen Tod im Züricher Exil, schrieb der Gehirnforscher Georg Büchner (geboren 1813 im Großherzogtum Hessen-Darmstadt) das Dramenfragment "Woyzeck". Es wurde 1879 in der stark überarbeiteten Fassung von Karl Emil Franzos erstmals gedruckt (wegen eines Lesefehlers unter dem Titel "Wozzeck"), 1913 am Residenztheater München uraufgeführt.
Diese Inszenierung, die Alban Berg (1885 bis 1935) sah, inspirierte den Wiener Komponisten zu seiner ersten Oper. Sie wurde 1925 (unter Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper) uraufgeführt und traf wegen der in ihr anklingenden sozialen Problematik sowie angesichts der Kritik an Offizieren und "dem Arzt" – mithin "Stützen der Gesellschaft" – den Nerv der Zeit. Nach dem Verbot des Werks in Mitteleuropa durch die deutschen Behörden rückte es seit 1950 ins Repertoire der Opern des 20. Jahrhunderts auf.

Die Wiener Festwochen wurden jetzt mit einer "Wozzeck"-Inszenierung eröffnet, die der "Klassifizierung" des prosaischen Dramas vom "kleinen Mann" aus den Vormärz-Jahren und den "armen Leut'" rings um ihn herum in vollem Umfang Rechnung trug. Stéphane Braunschweig, auch für die leere Bühne verantwortlich, stellte zunächst einen einsamen Stuhl vorn an die Rampe – für Angela Denoke. Die von wechselnden Partnern in Beschlag genommene Marie nimmt zu den ersten zarten Bläserfiguren auf ihm Platz – demonstrativ blondgelockt und mit dem namenlosen Kind als Klotz am Bein. Sie wird später aus ihrer Erstarrung aufbrechen, energisch und stimmstark versuchen, ihr verbeultes Leben noch einmal in die Hände zu nehmen. Doch die Verstrickungen sind zu weit gediehen. Sie wird, mitschuldig an der Tragödie, deren erstes Todesopfer, nachdem sie das exzellent aufspielende, stark verstärkte Mahler Chamber Orchestra zu großer Klage und frommen Gefühlen emportrug.

Wozzeck, in Gestalt von Georg Nigl ein ausgewachsener Wiener Sängerknabe mit vorzüglicher Befähigung zur Darstellung der "Hirnwütigkeit", pendelt mit überdeutlichen Gesten zwischen der informell zustande gekommenen Kleinfamilie und seinen Pflichten gegenüber dem Hauptmann, den er zu rasieren hätte.

Der treffsichere Tenor Andreas Conrad wartet auf einem zweiten Stuhl im Hintergrund der Bühne. Vergeblich. Er kommt nach vorn, um dort des Weiteren den heiteren Unsinn aus seinem deformierten Militär-Kopf zu entlassen, wird freilich ebenso wenig wie später der Arzt (nicht minder vorzüglich: der Wiener Bassist Wolfgang Bankl) von der Inszenierung denunziert.

Wozzeck, wie der Hauptmann andeutungsweise in der Kluft der Kriegsheimkehrer von 1918 (und somit im Outfit der Entstehungszeit dieser Oper), bewegt sich mit der ihm eigenen Hast in einem Niemandsland. Seine Marie verfügt über keinerlei Haushalt, der Arzt über keinen Praxisraum, der Wirtsgarten über keine Tische und Bänke. Der prophetische Alkoholiker erhält einen weiteren Stuhl, an den er sich klammern kann, wenn er prognostiziert, dass das Geld in Verwesung übergeht. Selbst an dieser Stelle gewährt die Regie keinen Fingerzeig auf die Aktualität des Werks.

Umringt von den Schönen und Reichen, hatte der Rezensent Gelegenheit, dem britischen Dirigenten Daniel Harding aus nächster Nähe über die Schulter zu schauen und auch der kleinen Gesten des Differenzierens für die feinsten Übergänge teilhaftig zu werden - dem großen Engagement für die groß orchestrierten Passagen ohnedies. Wie die Balancen aus sicherer Distanz wirkten, vermag er nicht zu sagen - dem einhelligen Beifall zufolge aber offensichtlich grandios.