"Am Anfang schuf Gott Hirn und Eintopf"

Im Herbst 1960 trafen sich einige Schriftsteller und Mathematiker in einem Pariser Restaurant, um gemeinsam zu essen, zu trinken und an neuen Texten zu tüfteln: die Geburtsstunde von "Oulipo", der "Werkstatt für potenzielle Literatur", zu deren bekanntesten Mitgliedern Italo Calvino, Georges Perec und Oskar Pastior gehören. Mitglied ist man für immer, verstorbene Autoren gelten lediglich als entschuldigt. Bis heute treffen sich die Oulipoten jeden Monat, und bis heute wird dabei gegessen und getrunken.
Ein ganzer Roman ohne "e". Eine ellenlange Liste, in der alles verzeichnet ist, was ein Mensch im Laufe eines Jahres konsumiert hat. Seitenweise Anagramme. Die Literatur von "Oulipo" ist oft komisch und mitunter abstrus, dabei folgt sie strengen Regeln. Im Laufe von fast 50 Jahren haben die Oulipoten immer neue Formzwänge entwickelt, aus denen dann Texte entstanden sind wie Georges Perecs monumentaler Roman "Das Leben: Gebrauchsanweisung" oder Raymond Queneaus weltberühmte "Stilübungen" - eine einfache Szene in vielen Variationen.

Jürgen Ritte ist seit Jahren ein treuer Wegbegleiter von "Oulipo" und spürt dem Geist dieser wunderbar seltsamen Autorengruppe nach – dafür hat er auch einen Formzwang gefunden: Er erzählt die Geschichte von "Oulipo" als Kochbuch. Ein mehrgängiges Literaturmenü aus Prosa und Lyrik, sozusagen. Mit Rezepten zum Nachkochen, mit alphabetischen oder nach Farben sortierten Menüvorschlägen, mit literarischen Auszügen aus fast 50 Jahren "Werkstatt für potenzielle Literatur" - thematisch immer angebunden ans Essen und Trinken. Die Textbeispiele geben einen guten Eindruck vom spielerischen Wesen der Arbeit von "Oulipo"; so erzählt der französische Schriftsteller Marcel Bénabou beispielsweise die Schöpfungsgeschichte mit einem oulipotischen Verfahren kurzerhand neu: "Am Anfang schuf Gott Hirn und Eintopf. Und der Eintopf war wüst und leer, und es herrschte Fisch auf der Terrine; und der Gast Gottes schwebte auf dem Weltmeer."

Alles schön und gut, aber ist das letztlich nicht nur ein Zeitvertreib für Schriftsteller, denen gerade nichts einfällt? Jürgen Ritte tritt den Gegenbeweis an: "Bis auf die Knochen" ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Literatur, die aus dem selbst verordneten Formzwang entsteht – und trotzdem mehr ist als reine Spielerei. An die anstrengende Form des Buches muss man sich gewöhnen: Ständig wechseln sich die flapsigen Kommentare des Herausgebers mit den übersetzten Texten der Autoren von Oulipo ab. Gerade auf den ersten Seiten verliert man so zwischen Anekdoten und Insider-Witzeleien den Überblick. Ein einfacher Einstieg hätte dem Buch gut getan. Trotzdem ist "Bis auf die Knochen" eine einmalige Einführung in die spannende Arbeit der "Werkstatt für potenzielle Literatur". Und eins hat man nach der Lektüre des Kochbuchs auf jeden Fall: Appetit auf gute Texte.

Besprochen von Martin Becker

Jürgen Ritte: Bis auf die Knochen. Das Kochbuch, das jeder braucht
Arche Verlag/Hamburg, Zürich 2009
200 Seiten, 18 Euro