Am Anfang ist das Ei

Ob Fruchtfliege, Hamster oder Mensch, sie alle verlassen sich bei der Embryonalentwicklung auf dieselben Mechanismen. Verantwortlich sind die "Hox-Gene", die das Entwicklungsschicksal von Zellgruppen lenken. Nun sind zwei neue Bücher des Genetikprofessors Sean B. Carroll erschienen, die sich diesem Forschungsgebiet widmen.
In einem frisch gelegten Fliegenei spielen sich dramatische Ereignisse ab: In kürzester Zeit teilen sich Zelle und Tochterzellen. Wie ein Globus wird der Embryo mit immer feineren Längen- und Breitengraden aus dünnen Zellschichten durchzogen, denn die Position der Zellen im Embryo bestimmt, zu welchen Gewebetypen sie sich ausbilden werden.

Über diesen Prozess wacht ein Set ganz besonderer Gene - sollten sie mutieren, erfährt die heranwachsende Fliege tiefgreifende Umstrukturierungen. Ist man hier den Prozessen der Bildung neuer Tierarten auf der Spur?

"Evo Devo" - so nennt sich griffig ein Forschungsprogramm, welches das evolutionäre und das entwicklungsbiologische Geschehen in der Zusammenschau erkundet. Ein prominenter Vertreter ist der US-amerikanische Genetiker und Molekularbiologe Sean B. Carroll. Er bemüht sich gleich in zwei Neuerscheinungen darum, jüngste biologische Erkenntnisse populärwissenschaftlich aufzubereiten.

"Evo Devo", erschienen im Verlag Berlin University Press, konzentriert sich auf wenige, aber entscheidende Fragen: Nach welchen zentralen Regeln werden die Baupläne der Tiere gestaltet? Wie kommt es, dass aus vergleichsweise wenig genetischen Unterschieden - siehe Mensch und Schimpanse - dennoch klar umrissene, sehr unterschiedliche Arten werden? Wie lässt sich erklären, dass bei allen Tieren ähnliche Entwicklungssprünge stattfinden können - zum Beispiel die Vermehrung von sich wiederholenden Körperteilen und der Umbau ihrer Funktion?

Es sind die berühmten Hox-Gene, die das Entwicklungsschicksal von Zellgruppen lenken und damit den Gesamtbauplan von Tieren festlegen. Hox-Gene, so erläutert der Autor, legen die Identität eines Körpersegmentes fest und bestimmen, welche Organe in diesem Körperteil ausgeprägt werden - ob etwa Antennen in Kopfsegmenten oder Beine und Flügel in den Brust-Segmenten einer Fliege wachsen. Hox-Gene tun die Arbeit nicht selbst - sie kontrollieren die Aktivitätsmuster anderer Gene.

Für die Evolutionsforschung wurden Hox-Gene interessant, als man erkannte, dass ihre charakteristische "Homöobox" - ein kurzer Erbgut-Abschnitt - bei ganz verschiedenen Hox-Genen und in verschiedenen Tierarten gleich aufgebaut ist. Seit Jahrmillionen also tastet die Evolution Hox-Gene kaum an. Bei so viel evolutionärer Ähnlichkeit eröffnet sich die Frage, wie dann biologische Vielfalt zustande kommen konnte: Nicht die Körperbau-Gene selbst, sondern ihre Schalter mutieren, erklärt Carroll.

Auf diese Weise ändert sich das Aktivitätsmuster der nachgeschalteten Gene und neue Varianten können entstehen: Der Stichling verliert seine Bauchflosse, Fliegenflügel erhalten neue Muster. Nach einer theoretischen Einführung in diese - nicht ganz neue Materie - präsentiert der Autor konkrete Beispiele.

Sie zeigen, was Evo-Devo-Wissenschaftler heute im Detail wissen über Muster auf Schmetterlingsflügeln, farbige Vogelgefieder oder die unterschiedlichen Kaumuskeln bei Schimpansen und Menschen. Hier läuft der Autor zu seiner Hochform auf: Viel anspruchsvolle Wissenschaft, dazu die Geschichte spannender Entdeckungen und immer wieder Anekdoten aus dem eigenen Forscherleben - so sieht gelungene Sachbuchunterhaltung aus.

Das Lob gilt auch für das zweite neue Buch des Autors, "Die Darwin-DNA", in dem er das Evolutionspotential des Erbgutmoleküls beleuchtet. Hier möchte Carroll zeigen, wie exakt die Strukturen der DNA über vergangene Prozesse der Evolution Auskunft geben. Eines von vielen Beispielen, denen der Genetikprofessor je ein Kapitel widmet, sind "fossile Gene": "Use it or lose it", heißt es prägnant auf Englisch.

Gene, die nicht mehr benötigt werden, zerfallen im Laufe der Evolution. Wenn Tiere, weil sie sich in Höhlen zurückziehen, allmählich ihre Fähigkeit zum Sehen verlieren, häufen sich auch Fehler in Genen an, die für die Bildung intakter Augen verantwortlich sind. Umgekehrt sind diese Gene bei sehenden Tierarten sehr ähnlich. Wie sollte dieser Befund anders zu erklären sein, als mit dem Vorhandensein oder Fehlen eines Selektionsdrucks?

Der Kreationismus, in seiner Heimat USA ein mächtiger Gegner evolutionsbiologischer Forschung, argumentiere in völliger Unkenntnis solcher genetischen Forschungsergebnisse, wettert Carroll gegen Ende des Buches. Statt sich mit pseudowissenschaftlichen Gefechten zu befassen, gelte es, alle gesellschaftlichen Kräfte zu bündeln, um die bedrohte biologische Vielfalt - das Produkt der Evolution - vor dem endgültigen Untergang zu bewahren. Ein starkes Plädoyer aus der Feder eines überzeugenden Sachbuchautors.

Rezensiert von Susanne Billig

Sean B. Carroll, Die Darwin-DNA: Wie die neueste Forschung die Evolutionstheorie bestätigt
Fischer Verlag, gebunden
320 Seiten, 19,90 Euro

Sean B. Carroll, Evo Devo: Das neue Bild der Evolution
Berlin University Press, gebunden
380 Seiten, 44,90 Euro