Altruismus als Ausdruck von Ich-Stärke

09.07.2012
Wer Juden vor den Nazis versteckte, war selbstlos, so denken wir. Solche Beispiele wählt Michel Terestchenko am liebsten. Von wegen "selbstlos", kontert er - und meint nicht die narzisstische Befriedigung, stolz auf sich zu sein. Nein, die altruistische Geste sei eine Form von Selbstverwirklichung, findet der Philosoph.
Abu Graib - My Lai - 9/11 - Gulag - Konzentrationslager: Wir kennen Beispiele für beinah unvorstellbaren Sadismus, aber auch Fälle ganz selbstverständlicher Hilfe trotz höchsten Risikos fürs eigene Leben. Doch unser moralischer Diskurs scheint ziemlich verflacht in den Augen von Michel Terestchenko. Wir kennen nur noch die platte Alternative: Egoismus oder Altruismus. Die Neigung zum einen bedeutet Entfernung vom anderen. Unsinn, sagt Terestchenko: "Das eigentliche Gegensatzpaar besteht aus Selbstbehauptung und Selbstverlust."

Nur ein fremdbestimmter Mensch ist im Wortsinn "selbstlos", eben weil sein Selbst fremdbestimmt ist, von Gott, Gesellschaft oder von verinnerlichten Autoritäten jeder Art. Gerade dann aber, so spottete Erich Fromm einst, glauben die meisten, tief innen zu wollen, was sie eigentlich nur müssen. Nein, der tiefe Kern der Menschen, das moi profond, mache immun gegen autoritäre Anfechtungen: Dies glaubt der Autor bei allen zitierten Rettern und Helfern zu beobachten; die "Akzeptanz des eigenen Ichs, eine bestimmte Art, sich zu behaupten und mit sich selbst im Einklang zu stehen". Diese - leider ziemlich schwammig formulierte - Grundeinstellung führe zu einer offenen, freien, vertrauensvollen und freundschaftlichen Haltung der Außenwelt gegenüber, glaubt Terestchenko, und erkläre menschliches Verhalten besser als jede moralische Überzeugung.

Eine Frau, die einen Gejagten ganz selbstverständlich ins Haus lädt; ein ganzes Dorf, das sich zum Verstecken verschwört; Raoul Wallenberg und Giorgio Perlascas, die mit gefälschten Papieren Tausende Juden in Ungarn retteten: Terestchenko versucht eine Persönlichkeitstypologie, die Altruismus als einen Ausdruck von Ich-Stärke darstellen soll. Der Versuch gerät mitunter etwas naiv-sentimental in seiner Berufung auf einen unbestechlichen Wesenskern des Menschen. Doch hatte nicht Schiller, den er gern zitiert, gewarnt, Gehorsam gegenüber unserer inneren Stimme sei kaum anders als jeder andere Befehlsnotstand? Belegen die Beispiele also eher Prinzipienreiterei als autarke, mündige Persönlichkeiten? Zumal der Autor die kollektive Handlungsweise eines ganzen Dorfs als Ballungsraum solcher Persönlichkeiten unterstellen müsste.

Das Problem ist nicht so sehr der Verfall der Werte, legt Terestchenko nahe. Es sind oft die herrschenden Werte selber, von denen wir uns - geschönt durch Begriffe wie Pflicht und Treue - zu gedankenlosen willigen Vollstreckern verstümmeln lassen.

Besprochen von Eike Gebhardt

Michel Terestchenko: Der dünne Putz der Menschlichkeit
Übersetzt von Nicola Denis
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2012
232 Seiten; Euro 22,90