Altert Deutschland wirklich?

Von Konrad Weiß |
Unter der reißerischen Überschrift "Deutschland wird immer älter" hat die Bertelsmann Stiftung unlängst eine Bevölkerungsprognose für das Jahr 2025 veröffentlicht. Demnach werde in zwanzig Jahren die Hälfte der Bevölkerung älter als 47 Jahre sein, in Ostdeutschland sogar älter als 53.
In einem Internetportal "Wegweiser Kommune" stellt die Bertelsmann Stiftung zudem Daten zu den Auswirkungen des demographischen Wandels für alle Kommunen ab 5000 Einwohnern zur Verfügung.

Es ist nicht das erste Mal, dass unserem Land von Demographen die Vergreisung prophezeit wird. Es mag ja sein, dass die Bevölkerung in Deutschland tatsächlich immer älter wird, aber doch nicht das Land. Auch ein Land mit tausend Hundertjährigen kann vital und innovativ sein. Zudem habe ich durchaus Zweifel, ob die düsteren Berechnungen dieser Studie überhaupt belastbar sind. Die Autoren gestehen selbst ein, dass einige der Basisdaten, auf deren Grundlage sie ihre Prognose erstellt haben, höchst unzuverlässig sind. So beruhen die Berechnungen für die ältere Bevölkerung auf den Daten der Volkszählung von 1987 bzw. von 1981 in DDR. Alle Fehler und Ungenauigkeiten von damals werden seit Jahren fortgeschrieben und hochgerechnet.

Es ist kein Geheimnis, dass in der DDR statistische Daten nach Belieben und Bedarf gefälscht und geschönt wurden. Folglich stehen alle Prognosen für die ältere Bevölkerung in Ostdeutschland unter diesem Vorbehalt. Das Statistische Bundesamt selbst geht von einer erheblichen Überschätzung der Bevölkerungszahl um etwa 1,3 Millionen aus, insbesondere bei den Älteren. Brauchbare Basisdaten erhoffen sich die Demographen erst vom registergestützten Zensus, der für 2011 geplant ist. Ungeachtet der statistischen und faktischen Unsicherheiten geben sich die Autoren der Bertelsmann Studie hinsichtlich ihrer Prognosen dennoch sicher, zu sicher, wie ich meine.

Für weite Gebiete Ostdeutschlands sagen sie eine abnehmende Bevölkerungszahl und starke Überalterung voraus. Als Spitzenreiter unter den vergreisenden Städten Ostdeutschlands nennen sie das sächsische Hoyerswerda. Sie prognostizieren einen Bevölkerungsschwund von heute 42.000 auf 28.000 im Jahr 2025; fast ein Sechstel der Einwohner werde dann älter sein als 80 Jahre. Selbst wenn die Zahlen zuträfen, als Modell eignet sich Hoyerswerda nicht. Noch 1939 war es eine Landstadt mit etwa 7000 Einwohnern. Innerhalb von 40 Jahren verzehnfachte sich diese Zahl. Die DDR hatte aus Hoyerswerda eine "sozialistische Wohnstadt" für das Kohle- und Energiekombinat "Schwarze Pumpe" gemacht. Angesichts der Endlichkeit der Kohlevorräte war das von vorneherein ein Projekt auf Zeit, an Alternativen für die Zeit danach dachte niemand. Nach der Wiedervereinigung sind die meisten Arbeitsplätze weggebrochen; die Bevölkerung ist heute tatsächlich überaltert. Doch die Probleme, mit denen sich die Stadtväter herumzuschlagen haben, sind nicht zuerst Folge des demographischen Wandels, sondern Nachwirkung der gigantischen Fehlplanung der DDR. Im Übrigen versucht die Stadt aktiv und einfallsreich, dem demographischen Trend entgegenzuwirken, durchaus mit Erfolg.

Dies Beispiel zeigt, dass nackte Zahlen allein nicht taugen, sondern hinterfragt werden müssen. Das gilt auch für andere Städte und Regionen in Ostdeutschland. Ich halte demographische Prognosen, die weder die Gestaltungskraft der Bürgerinnen und Bürger noch die historischen, politischen und sozialen Gegebenheiten berücksichtigen, für fragwürdig und kontraproduktiv. Der demographische Wandel kann doch durchaus auch als Chance begriffen werden, nicht nur als Last. Auch Ältere haben Potentiale, die der ganzen Gesellschaft zugute kommen können und oft genug ungenutzt sind. Einige Städte, zuerst Bielefeld und Iserlohn, haben inzwischen Demographiebeauftragte installiert, die alle kommunalen Planungen und Entscheidungen unter den Aspekten des demographischen Wandels prüfen. So kann problematischen Entwicklungen frühzeitig entgegengewirkt werden – damit unser Land eben nicht älter, sondern lebendiger und vielfältiger wird. Und jedenfalls anders, als es uns die Demographen weismachen wollen.

Der 1942 im schlesischen Lauban geborene Konrad Weiß studierte an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. Bis zur Wende 1990 drehte er rund 50 Dokumentarfilme für das Kino und Fernsehen. 1989 gehörte Konrad Weiß zu den Gründungsmitgliedern der Bürgerbewegung Demokratie jetzt (später Bündnis 90), wurde 1990 Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer, dann des Deutschen Bundestages. Seit 1994 arbeitet er als freier Publizist. Buchveröffentlichungen u.a. "Neuland - Dialog in Deutschland" (mit Rita Süßmuth), "Von Erblasten und Seilschaften" und die Biographie "Lothar Kreyssig - Prophet der Versöhnung". Konrad Weiß lebt in Berlin.