Altersmilder Rückblick

Jahrzehntelang war Slawomir Mrozek der meistgespielte polnische Dramatiker. Lange lebte er in Frankreich, Italien, Mexiko, bevor er nach Krakau zurückkehrte. Mit über 75 hat Mrozek jetzt seine „Balthasar – Autobiographie“ vorgelegt. Es ist ein altersmildes Werk. Eine schwere Erkrankung des Autors war Anlass für das Buch.
Theaterstücke haben ihn bekannt gemacht, etwa „Polizei“ (1953), „Tango“ und „Striptease“ (vom Beginn der Sechziger). Schauspiele aus jüngerer Zeit heißen „Die Witwen“ und „Liebe auf der Krim“. Jahrzehntelang war Slawomir Mrozek der meistgespielte polnische Dramatiker. Auch als Verfasser kauziger Kurzgeschichten wird er geschätzt. Man spielt, liest und liebt ihn in Ost und West, in Polen, Deutschland und Amerika. Ja, Mrozek, geboren 1930 in einem Dorf bei Krakau, ist ein Kosmopolit par excellence. Ganz anders seine Bühnen- und Buchfiguren. Wenig weltgewandt sind diese Helden, leben nicht im Offenen, sondern in einer bizarren Welt, groteske Charaktere in groteskem Milieu.

Mit über 75 hat Mrozek jetzt eine Autobiographie vorgelegt, ein altersmildes Werk, das nur zu Teilen Nabelschau ist, Rückblick, Fotoalbum. Eine Krankheit war Anlass für das Buch: Im Frühjahr 2002 erlitt der Autor (damals in Mexiko lebend) einen Hirnschlag; dem Schlag folgte die Aphasie – er verlor die Fähigkeit, sich der gesprochenen wie geschriebenen Sprache zu bedienen. Eine Therapeutin hatte den Einfall, der Patient solle zwecks Rehabilitation sein Gedächtnis erforschen, um Bilder, Szenen, Gedanken schriftlich zu fixieren. „Ich schrieb per Hand, einige Seiten täglich.“

Während der Arbeit – Mrozek weilte eben in Paris – hatte der Künstler Ende 2003 einen seltsamen Traum. Eine Stimme verhieß ihm eine Reise, an deren Ziel die Behörden jede Forderung erfüllen würden, vorausgesetzt, der Pole trage (wohl als Ausweis seiner neuen, zweiten Existenz) einen neuen Namen: Balthasar.

Nun ist dies Balthasars Rückschau geworden, 370 Seiten stark (Tausende Seiten hat der Verfasser verworfen). Slawomir Mrozek – jener Autor, der nach der Erfahrung zweier Diktaturen noch jeden Stoff ins Surrealistische drehte, ins Absurde –, dieser Mrozek existiert nicht mehr. Balthasar erzählt schlichte Lebensgeschichten, viele berührend, andere belanglos. Und manche Fährte, absichtsvoll markiert, endet im Unterholz: „Ich möchte nicht darüber schreiben.“

Woran erinnert sich Balthasar? An den beständigen Einbruch der unbarmherzigen Dame Historia in die Familiengeschichte. An das Leben in Krakau vor dem Krieg, den Einmarsch der Deutschen und eine Befreiung, die keine war. An ein „Tauwetter“ nach 1945 und die folgende Eiszeit. An seine, Mrozeks, „plötzliche Begeisterung für die Idee des Kommunismus“ und das spätere Zerwürfnis mit der Partei. An den Weg zum Theater, einen verschlungenen Pfad, der über die Architektur, den Journalismus, die Kunstgeschichte führte. Für eine Zeitung hat der junge Slawomir Karikaturen gezeichnet, für ein Kabarett getextet.

An Mrozeks frühen Ruhm erinnert Balthasar, an die Fahrten nach Paris, New York und andere Privilegien als „Vorzeige-Intellektueller“ im sozialistischen Polen. 1963 ist Slawomir Mrozek von einer Reise nicht wieder heimgekommen. 33 Jahre lang lebte er, ein gefeierter Künstler, im Westen, in Frankreich, Italien, Mexiko; dann kehrte er – für sich selbst überraschend – zurück nach Krakau.

Episoden aus ferner Vergangenheit findet der Leser zu einem gleichermaßen besinnlichen wie vergnüglichen Text verwoben; komische und traurige Momente wechseln einander stetig ab. Besonders anrührend sind die Porträts von Verwandten, skizziert in ihrer kleinbürgerlichen Erhabenheit, mit ihren Schwächen und Lastern, sowie die dezenten Naturschilderungen. ("Ich liebte auch die abendlichen Fahrten zur Mühle. Der Weg wand sich dicht am Fluß entlang...").

Provozierend, angenehm frisch wirkt die distanzierte Sichtweise auf unsere Nachbarn, seine Landsleute. „Es ist eine polnische Manie zu glauben, daß andere, und zwar überall auf der Welt, sich für uns interessieren würden.“ Die Polen sind ihm fremd geworden und doch beklemmend vertraut geblieben; nach 1996 brauchte der Autor fünf Jahre, um sich in Krakau wieder daheim zu fühlen.

Ohne Schmerz, mit leiser Wehmut nur schaut Balthasar zurück; Mrozeks Ruhm von einst bedeutet nichts mehr: alles Theater. Im Alter, erkennt der Autor, krümmt sich die einst so geradlinige Lebensbahn zum Kreis. „Man sollte“, schrieb er einmal in der „Zeit“, „zur Weiterreise gerüstet sein“.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Slawomir Mrozek: Balthasar. Autobiographie.
Aus dem Polnischen von Marta Kijowska.
Diogenes Verlag, Zürich 2007. 384 S., Euro 22,90.