Altersarmut "viel stärker verbreitet als bisher angenommen"

Klaus Wicher im Gespräch mit André Hatting · 23.10.2013
"Die Altersarmut wird zunehmen", ist sich Klaus Wicher sicher. Der Chef des Hamburger Landesverbandes im Sozialverband Deutschland geht von einer "hohen Zahl der verdeckten Armut" aus. Abhilfe könnte die Einführung eines Mindestlohnes sowie die Rente nach einem Mindesteinkommen schaffen.
André Hatting: Immer mehr Rentner in Deutschland brauchen Sozialhilfe. Ohne Zuschuss vom Staat reicht es nicht mehr zum Leben. Die Rente ist einfach zu mickrig. Nicht so sehr die absoluten Zahlen der Altersarmut sind hier erschreckend, sondern die Entwicklung: 2012 ist der Anteil unter den Rentnern, die eine staatliche Grundsicherung brauchen, um 6,6 Prozent gestiegen im Vergleich zum Jahr davor. Das ist Rekord!

Und noch etwas stimmt nachdenklich: Spitzenreiter unter den Bundesländern ist nicht etwa das arme Mecklenburg-Vorpommern, sondern Hamburg. Klaus Wicher ist Vorsitzender des Landesverbandes der Hansestadt im Sozialverband Deutschland. Guten Morgen, Herr Wicher!

Klaus Wicher: Guten Morgen, Herr Hatting!

Hatting: Warum hat das reiche Hamburg die meisten armen Rentner?

Wicher: Ja, das fragen wir uns auch seit einiger Zeit. Es ist ja so, wir beobachten die Zahlen seit 2005 und stellen fest, dass seit 2005 die Zahlen deutlich ansteigen. Die Altersarmut entsteht ja in der Regel dadurch, dass man während der aktiven Zeit im Arbeitsleben nicht genügend Möglichkeiten hat, für die Rente vorzusorgen. Das heißt, man zahlt zu wenig ein, und deswegen sind die Rentenansprüche am Schluss dann deutlich niedriger. Das ist der eine Punkt.

Der zweite Punkt: Mittlerweile wissen wir, dass es eine hohe Zahl der verdeckten Armut gibt, oft eben auch bei Älteren. Es gibt eine Untersuchung von Frau Becker bereits aus dem Jahre 2007, und die hat festgestellt bei einer Untersuchung von über einer Million Menschen, die zu den Ärmeren gehören, dass etwas von ihnen 68 Prozent einen Anspruch auf Grundsicherung hätten, aber diesen Anspruch gar nicht geltend machen.

Hatting: Und damit würden die, Herr Wicher, auch gar nicht vom statistischen Bundesamt erfasst werden.

""Die Altersarmut ist viel stärker verbreitet, als wir das bisher angenommen haben""

Wicher: So ist das. Und deswegen weisen wir darauf hin: Die Altersarmut ist viel stärker verbreitet, als wir das bisher angenommen haben. Und das zeigt übrigens ja auch die sogenannte Armutsgefährdungsgrenze. Das ist ja ein anderer Indikator, der eigentlich viel deutlicher zeigt, dass die Dramatik höher ist. Wir wissen, die Armutsgefährdungsquote für alle in Deutschland liegt bei irgendwo zwischen 15,5 und 16 Prozent.

Hatting: Was genau heißt das? Worauf beziehen sich diese Prozent?

Wicher: Die beziehen sich auf alle sozusagen, die in der Bundesrepublik leben. Die Armutsgefährdungsquote bei den Über-65-Jährigen liegt knapp darunter, bei etwa 14 Prozent. Das heißt, wir wissen lange, dass ganz viele ältere Menschen in ganz schwierigen Lebenssituationen sind und längst Unterstützung benötigen. Diese Quote ist ja berechnet, das muss man vielleicht auch noch mal zur Deutlichkeit sagen, 60 Prozent von einem mittleren Einkommen. Und das ist ja üblich, und das, was ich Ihnen gerade gesagt habe, ist von der Europäischen Union festgestellt worden und nicht etwa sozusagen aus der Feder des Sozialverbandes.

Hatting: Herr Wicher, Sie beraten ja Menschen, die davon betroffen sind, die dann zu Einrichtungen kommen und denen da geholfen wird. Welche Personengruppen sind denn da am stärksten betroffen in Hamburg zum Beispiel?

""Frauen sind von Altersarmut besonders betroffen""

Wicher: Na ja, es kommen viele Frauen natürlich, weil Frauen sind von Altersarmut besonders betroffen. Es kommen natürlich auch Erwerbsminderungsrentner, die eine kleinere Rente beziehen als der übrige Teil derjenigen, die eine Rente beziehen. Und es sind viele Alleinstehende, die wir beraten.

Aber es gibt natürlich auch Menschen, die in Familien zusammenleben. Es ist ja übrigens auch so, dass, solange die Familien noch intakt sind, es natürlich Möglichkeiten gibt, sozusagen durch ein gemeinsames Einkommen dann …

Hatting: … sich gegenseitig zu helfen.

Wicher: So ist es.

Hatting: Die schwarz-gelbe Regierung hat sich ja vor einer Rentenreform bislang gedrückt. Was muss die neue als erstes ändern?

""Die Altersarmut wird zunehmen""

Wicher: Sie muss jetzt die Ursachen bekämpfen, das heißt, wir haben ja sehr viele Menschen in prekärer Beschäftigung und im Niedriglohnsektor, das ist ja keine kleine Zahl. Man muss sich das vergegenwärtigen, das sind siebeneinhalb bis acht Millionen Menschen. Die haben nicht die Möglichkeit, privat vorzusorgen. Das ist ja die Idee bisher, neben der gesetzlichen Rentenversicherung. Die werden kleine Renten beziehen, und das heißt, die Altersarmut wird zunehmen.

Im Niedriglohnsektor ist es ganz dringend erforderlich aus unserer Sicht, dass ein flächendeckender Mindestlohn eingeführt wird. Da, finde ich, sind die Gespräche in den Koalitionsberatungen im Moment auf einem ganz guten Weg.

Dies allein reicht unter Umständen nicht, sondern man kann auch eine Regelung finden, dass man eine Rente nach einem Mindesteinkommen einführt. Das bedeutet Folgendes: Egal, wie wenig man verdient, die Rente wird berechnet nach einem Durchschnittseinkommen in der Gesellschaft. Und das ist auch übrigens relativ einfach einzuführen, weil das gibt es nämlich bereits im Rentenrecht. Es muss nur wieder in Kraft gesetzt werden. Das ist 2001 außer Kraft gesetzt worden. Der Paragraf steht noch im Rentenrecht, und man muss es nur einführen.

Hatting: Und wie kann man das finanzieren?

Wicher: Das haben wir auch vorgeschlagen. Übrigens, eine der beiden Parteien, die in den Koalitionsverhandlungen sich befinden, ja auch, das ist die SPD. Sie haben ja gesagt, sie möchten eine solidarische Steuerreform durchführen. Das ist auch der Weg dahin. Das heißt, man muss den Einkommensteuerspitzensatz deutlich erhöhen. Unter Helmut Kohl, dem man ja nun nicht Sozialismus oder Ähnliches vorwerfen kann, war der Einkommensteuerspitzensatz 53 Prozent für die, die ganz viel verdient hatten, sogar 56 Prozent. Das ist leicht in Vergessenheit geraten.

Und man muss eine Vermögenssteuer einführen, die es seit 1987 nicht mehr gibt. Es gibt ja eine auseinander sich spreizende Schere in der Gesellschaft. Die, die haben, werden immer reicher, und die, die nichts haben, also die unteren 50 Prozent, verfügen faktisch über gar kein Vermögen. Und hier ist es einfach sozial gerecht, diejenigen, die auch immer mehr haben von ihrem Vermögen, stärker an den Kosten der Solidargemeinschaft zu beteiligen.

Hatting: Wollen mal sehen, ob sich die SPD damit in den Koalitionsverhandlungen dann durchsetzen kann.

Wicher: Es geht – wenn ich das noch eben sagen darf – es geht überhaupt erst mal darum, dieses Thema auf den Tisch zu legen, und da haben wir im Moment den Eindruck, dass das nicht geschieht. Und das, finde ich, sollte sich die SPD nicht nachsagen lassen, sondern sie sollte hier versuchen, auch ihre Position, die sie im Wahlkampf vorangebracht haben und für die sie viele Wähler auch gewählt haben, in die Verhandlungen stärker einzubringen.

Hatting: Und am Ende entscheiden ja die SPD-Mitglieder darüber. Klaus Wicher war das, Vorsitzender des Hamburger Landesverbandes im Sozialverband Deutschland. Danke für das Gespräch, Herr Wicher!

Wicher: Danke Ihnen auch. Wiederhören, Herr Hatting!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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