Altenburg

Eine Stadt kämpft gegen den Niedergang

07:53 Minuten
Stadtmodell, über das bunte Fäden gespannt sind.
700.000 Euro für Bürgerprojekte zur Stadtentwicklung: Zu den Gewinnern der Ausschreibung "Stadt gemeinsam gestalten" gehörte 2018 auch Altenburg. © Deutschlandradio / Annette Kammerer
Von Annette Kammerer · 02.11.2020
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Wegzug, Leerstand, Rechtsruck: Das thüringische Altenburg erlebt seit der Wende einen dramatischen Niedergang. Wie kann die Stadtgesellschaft wieder auf die Beine kommen? Geld für Projekte ist da, aber die Bürger müssen auch bereit sein, mitzumachen.
Valentin Rühlmann und Susann Seifert steigen in einen klapprigen, kastenförmigen Ford. Es ist halb 11 in Altenburg, einer Kleinstadt irgendwo zwischen Leipzig und Chemnitz.
"Wir fahren jetzt nach Altenburg-Nord", erklären sie. Um dort eine Person anzusprechen:
"Immer, wenn wir immer auf Häuser geschossen haben, haben wir geklingelt, aber wir haben jetzt auf den Platz geschossen und müssten den ersten ansprechen, der uns begegnet."
Geschossen – damit meint Susann Dartpfeile. Kurz vorher spielten die beide nämlich Dart. Ihre Zielscheibe: eine Stadtkarte von Altenburg. Dort, wo der Pfeil stecken blieb, fahren die beiden jetzt hin und "überfallen", wie Valentin das nennt, die erstbeste Person.
Um ihr zu sagen, "dass wir 1000 Euro haben, mit dem er oder sie irgendwas für die Stadtgesellschaft machen kann".
Tausend Euro quasi auf die Hand, um Blumen zu pflanzen oder Bänke zu bauen – ganz egal, Hauptsache in und für Altenburg.
Susann schmeißt den Motor an und ruckelt durch die sanierte Innenstadt. Manche Villen sind piekfein hergerichtet, andere sind mit antiken Säulen verziert. Und über allem thront ein herrschaftliches Schloss.

"Bis 1914 beherrschte das Altenburger Hutmachergewerbe den Weltmarkt … Vor allem Metall, Chemie- und Druckereibetriebe, auch in der Produktion von Nähmaschinen war Altenburg führend … Altenburg hat als ehemalige Residenzstadt so manche Perle zu bieten." (Aus dem Youtube-Geschichtskanal Germania Magna)

Susann und Valentin fahren raus aus der Innenstadt. Jahrhundertealte Stadtvillen stehen hier keine mehr, dafür gibt es grauen Beton vor blauem Himmel: die für die DDR so typischen Satellitenbezirke, in denen sich ein Plattenbau an den nächsten reiht. Susann und Valentin steigen aus und laufen über einen nigelnagelneuen Platz. Ein bunter Eiswagen parkt vor einer leeren Ladenzeile, es sind kaum Menschen zu sehen.
"Es werden halt die Orte gemacht, die Orte werden aber nicht mit den Menschen, die hier leben, gemacht. Das ist das Problem."
STraßenansicht aus Altenburg: Kopfsteinpflaster und schön restaurierte Altbauten, aber auch vernagelte Schaufenster und Zeichen des Verfalls.
Zu DDR-Zeiten lebten etwa 60.000 Menschen in Altenburg. Heute sind es noch 30.000.© Deutschlandradio / Annette Kammerer
Valentin studiert unter der Woche im gut 70 Kilometer entfernten Jena, Susann betreibt einen gemeinnützigen Graffiti-Laden. Beide sind in Altenburg geboren und Teil des Projekts "Stadtmensch", einer Initiative von und für Altenburger. Susann managt das Projekt, Valentin ist einer der zwei Dutzend Freiwilligen.
"Unsere Vision ist, dass sich Menschen als Stadtgestalter begreifen und selbst Verantwortung übernehmen für die Dinge, die sie wollen, und nicht immer sagen, die anderen sollen machen."

Viel Geld für eine kleine Stadt

"Stadtmensch" hat sich vor zwei Jahren auf eine Ausschreibung des Bundesinnenministeriums beworben. Das Thema: "Stadt gemeinsam gestalten".
Jedem Sieger winkten jeweils fast eine dreiviertel Million Euro. Über 100 Projekte bewarben sich.
Zur Überraschung aller gewann als einzige ostdeutsche Stadt die Kleinstadt Altenburg – neben Hannover, Nürnberg und Münster. Seitdem fließen für drei Jahre nun 700.000 Euro zu "Stadtmensch". Viel Geld für eine kleine Stadt, in der es aber auch genug Probleme gibt.

"Von ehemals etwa 60.000 Einwohnern zu DDR-Zeiten stürzte die Bevölkerung nach der Wiedervereinigung auf heute gut 30.000 Einwohner ab. Die Nähmaschinenfabriken überlebten die Wiedervereinigung nur um ein paar Jahre. Die Huthersteller sind bis auf eine Manufaktur gänzlich verschwunden. Mit ihnen die Leder und Textilindustrie. (...) Versuche, Sparten der Automobilindustrie anzusiedeln, sind kläglich gescheitert." (Aus dem Youtube-Geschichtskanal Germania Magna)

"Ja, also welche Probleme man hier hat, weiß man hier sehr gut", sagt Petra Pau. Sie ist Vizepräsidentin des Bundestages und sitzt für die Linke im Innenausschuss.
Das Projekt "Stadtmensch" kennt sie gut, hat sich selbst ein Bild von dem Pilotprojekt gemacht.
"Dass das Bundesinnenministerium auch Gelder zur Verfügung gestellt hat, kommt nicht oft vor. Im künstlerischen Bereich vielleicht noch, aber bei der Stadtentwicklung gesteht man das oft noch Architekten oder Stadtplanern in Gestaltungswettbewerben zu, aber sehr selten basisdemokratisch organisierten Initiativen von Bürgerinnen und Bürgern."

2021 läuft das Projekt aus

Pau wünscht sich mehr davon. Mehr Geld direkt an Initiativen vor Ort als an staatliche, kommunale Stellen. Außerdem fordert die Bundespolitikerin mehr langfristigere Förderungen. "Projekteritis" nennt sie das Problem. Der Bund gebe Geld immer nur für ein paar Jahre, danach müssten die Initiativen selbst schauen, wie es weitergeht.
"Man muss sich einfach von der Grundphilosophie verabschieden, dass man Probleme, die dauerhaft in der Gesellschaft vorhanden sind – oder ich will gar nicht sagen Probleme, sondern Aufgaben –, dass man die über Projekte finanzieren kann. Sondern das ist eine Daueraufgabe."
"Stadtmensch" hat seine 700.000 Euro schon fast komplett verplant und zig Projekte umgesetzt. Neben dem Dartspiel fahren Altenburger mit einem mobilen Spielecafé übers Land. Bürger sollen so bei einer Partie "Mensch, ärgere dich nicht!" ins Gespräch kommen. Kinder durften Älteren in dem etwas anderen Friseursalon die Haare schneiden. Jugendliche besprayten leerstehende Gebäude. Andere stellen gerade Kunst in leerstehenden Kleingärten aus. Doch Ende des nächsten Jahres könnte Schluss damit sein. Dann wird das Projekt bewertet und planmäßig beendet. Geld fließt danach keines mehr. Wer "Stadtmensch" dann fördert, wie es also weitergeht, ist noch unklar. Susann weiß nur, dass sie auf ein neues Projekt keine Lust hat. Sie will "Stadtmensch" – und nur das. Auch wenn es schwierig ist.

Alle wollen, dass es besser wird - aber selber mitmachen?

Am Stadtrand von Altenburg suchen Susann und Valentin immer noch nach jemandem, der 1000 Euro will.
"Hallo? Der hat bestimmt Angst."

Ein Mann dreht sofort ab. Kurze Zeit später läuft eine junge Frau in gelbem Regelmantel vorbei. Wir hätten 1000 Euro für dich, erzählen die beiden schnell, "es ist eigentlich vollkommen egal, was du damit machst, so lange du in der Stadt etwas machst. Es kann ein Event sein, Blumenpflanzen, vollkommen egal. Frei zur Verfügung. Du könntest quasi entscheiden, was damit passiert, und dann machen wir es mit dir zusammen."
Eine junge Frau mit blonden Rastalocken im Kleid und ein junger Mann in  Stoffhose und Jackett reden auf der Straße mit einer jungen Frau im gelben Regenmantel.
Nach einigem Suchen haben Susann und Valentin endlich eine Altenburgerin gefunden, die die 1000 Euro zur Gestaltung der Stadt annimmt.© Deutschlandradio / Annette Kammerer
"Würde jetzt mal spontan ja sagen", sagt die junge Frau.
Alle Altenburger, die von Susann und Valentin bisher angesprochen wurden, haben immer höflich "nein" gesagt. Keiner wollte die 1000 Euro. Eltern hätten zwar gerne mehr Spielgeräte oder ältere Menschen Sitzbänke, aber das selbst in die Hand nehmen? Nein, danke.
Veränderung ist eben ganz schön anstrengend, langsam und mühsam. Vor allem, wenn Menschen selbst die Veränderung sein müssen, die sich hier alle so sehnlichst wünschen.
"Da bin ich dieses Mal aber zuversichtlich, dass das was wird", sagt Valentin. "Das wird was."
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