Als Dolly Buster einfach weglief

Der Journalist André Müller interviewte berühmte Zeitgenossen für Zeitungen und Zeitschriften wie "Spiegel", "Stern", "Zeit" oder "Weltwoche". Seine Interviews sind Inszenierungen und Schaukämpfe. So mancher Star flüchtete vor seinen Fragen. Nun sind etliche der Gespräche in Buchform erschienen.
Interviews sind Dialoge, oft unfreiwillig, bei denen ein Teilnehmer Fragen stellt, oft zu einem aktuellen Thema, und der andere sich bedeckt hält, oft erfolgreich. Zumindest hierzulande, wo es als rüpelhaft gilt, wenn Journalisten Politikern allzu bohrende Fragen stellen, und als voyeuristisch, wenn sie auf persönliche Einblicke in öffentliche Figuren aus sind. Daraus folgt zwangsläufig eine Interviewkultur, der - überspitzt gesagt - das abgekartete Spiel als Gipfel der Professionalität erscheint: "Schön, dass wir mal drüber geredet haben." Zumindest im journalistischen Alltagsgeschäft.

Wenn André Müller, der im vergangenen April verstorbene berühmteste und berüchtigtste Interviewer deutscher Zunge, einer der Teilnehmer ist, ist das anders. Alltagsgeschäft und gewohnte Regeln sind seine Sache nicht. Er versteht "Das Interview als (Selbst-)Entblößung". Unter diesem Motto hat er 2001 Journalisten weitergebildet. Seine Dialoge sind Inszenierungen, Schaukämpfe, bei denen zwei Eitelkeiten aufeinanderprallen wie bei einer antiken Schlachtordnung: Auf jeder Seite eine bis an die Zähne bewaffnete und gepanzerte Phalanx, jeder Ausfall ein funkensprühender Zusammenstoß, der einen "Wahrheitsgewinn" erzeugen soll. Spiel - ja. Aber eins um Leben und vor allem Tod.

Ein packender Ausgangspunkt. Und tatsächlich lassen Müllers Interviews kaum jemanden kalt. Schon gar nicht die Interviewten. Von den hier Gesammelten rennen manche weg (wie Dolly Buster), streichen andere hinterher ganze Blöcke (was brüllkomisch aussieht, wie bei Karl Lagerfeld), versuchen wieder andere, zurückzuprovozieren (wie Jonathan Littell oder Michel Houellebecq). Kaum jemand lässt Müllers Überfälle souverän abperlen (wie Genscher oder Gerhard Richter). Die meisten unterwerfen sich dem heiligen Ernst, mit dem Müller sie immer wieder auf sein eigenes Thema, Tod und Krankheit, festnagelt. Nur manchen bekommt das gut (wie Elfriede Jelinek oder Peter Handke). Andere, die gekränkt merken, dass sie bloß Objekte seiner Inszenierung sind, kriegen süffisante Kommentare in der Einleitung. Das ist zwar nicht menschenfreundlich, aber oft amüsant zu lesen. Und bei öffentlichen Figuren gehört öffentliche Bloßstellung nun mal zum Geschäft.

Müllers Gespräch mit seiner Mutter Gerta dagegen hinterlässt Unbehagen. Das sechzig Seiten lange Kernstück der Sammlung bietet die Quintessenz seines Interviewstils. Hier ist höfliche Distanz nicht nötig, man kennt sich ja. Er fährt ihr über den Mund, weiß alles schon vorher und meistens besser, erklärt ihr, wer sie ist. Das kommt fast immer von oben herab – und kriegt sie doch nicht klein. Die Rache ist ein perfider "Persilschein" am Ende: "Sich einmal so auszuliefern", habe sie ihm hinterher gesagt, sei angenehm gewesen.

Starker Stoff zum Nachdenken. Man hätte sich allerdings eine etwas sorgfältigere Edition gewünscht. Von den "letzten Gesprächen und Begegnungen" ist das älteste von 1990, im Text fehlt manche Kursivierung, Namen von Fotografen sucht man vergebens. Und der Buchtitel gehört zu einem Interview, das nicht hier, sondern nur auf Müllers Homepage zu lesen ist (wie übrigens alle seine Texte).

Besprochen von Pieke Biermann

André Müller: "Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe!" Letzte Gespräche und Begegnungen
mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek
Verlag LangenMüller, München 2011
368 Seiten, 19,99 Euro