Als der Kommunismus unterging

Von Christian Berndt |
Funktionäre, Putschisten, Demonstranten: In sechs Teilen erzählt die TV-Doku "Lebt wohl, Genossen" von den letzten Jahren der Sowjetunion und ihrer verbündeten Staaten. Das Ergebnis ist eine atmosphärische Innenansicht aus dem ehemaligen Ostblock.
Seit sechs Uhr morgens läuft im sowjetischen Staatsfernsehen nur noch Tschaikowskys "Schwanensee". Dann verkündet der Vizepräsident der Sowjet-Union, Gennadij Janajew:

"Da Michail Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, das Amt des Präsidenten der Sowjetunion auszuüben, hat der Vizepräsident vorübergehend die Aufgaben des Präsidenten übernommen."

Ein Staatsstreich. Die Hardliner in der Führung der sowjetischen KPdSU haben Präsident Gorbatschow abgesetzt. Die Welt hält an diesem 19. August 1991 den Atem an. Doch bereits nach drei Tagen bricht der Putsch zusammen, ein erschöpfter Gorbatschow kehrt von der Krim zurück, wo man ihn in seinem Ferienhaus festgehalten hatte. Aber sein politisches Ende ist besiegelt. Vier Monate später verkündet Gorbatschow im Fernsehen:

"Ich trete zurück vom Amt des Präsidenten der UdSSR."

Mit diesen Worten endet die Existenz der Sowjetunion. Ein Weltreich, das nur 15 Jahre zuvor im Zenit seiner Macht gestanden hatte. 1975 war die Schlussakte der KSZE unterzeichnet worden. Darin hatte der Westen mit der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Verbündeten unter anderem Vereinbarungen über die Anerkennung der Grenzen in Europa getroffen. Viele sahen darin eine Niederlage des Westens, weil er die Dominanz der Sowjetunion über Osteuropa anerkannt, aber dafür lediglich eine unverbindliche Erklärung zu den Menschenrechten erhalten habe. Doch gerade die bot Sprengstoff, denn nun wurde in Osteuropa teils offen über Menschenrechte diskutiert. Besondere Bedeutung kam dabei der Kultur zu, wie der ungarische Schriftsteller und Mitautor der Serie, György Dalos, bei der Vorstellung des Projektes in Berlin erzählt:

"Weil es keine zivile Gesellschaft gab und keine Möglichkeit, direkt im politischen Raum Wahrheiten auszusprechen, hat die Kultur nolens volens diese Rolle übernommen. Und deswegen war, was ein Schriftsteller schrieb oder ein Maler malte, selbst für die Herrschenden wichtiger geworden als in jedem westlichen Land."

In der Tschechoslowakei verkörpert damals die Rockband "Plastic People of the Universe" eine alternative Subkultur. 1976 provoziert die Verhaftung der Band eine Protest-Aktion, die zum Auslöser der Oppositionsbewegung Charta 77 wird. "Lebt wohl, Genossen" setzt ein im Jahr 1975, das hier als Beginn des wirtschaftlichen Niedergangs sowie eines gesellschaftlichen Aufbruchs in Teilen des sowjetischen Machtbereiches markiert ist. Eingerahmt in einen Dialog zwischen dem in Leningrad geborenen Regisseur und Mitautor der Serie, Andrei Nekrasov, und seiner Tochter, kommen ausschließlich Zeitzeugen aus dem damaligen, sogenannten Ostblock zu Wort. Opfer von Verfolgung und frühere Regimekritiker wie Vaclav Havel sind ebenso zu hören wie damalige ZK-Funktionäre. Zusammen mit dem Filmmaterial ergibt sich ein sehr vielschichtiges Bild, auch vom alltäglichen Leben im Sozialismus – von Armut in Rumänien über Jugendkultur in der CSSR, dem Kampf der polnischen Solidarnosc bis zur DDR-Friedensbewegung:

"Wenn wir umsetzen die Worte in Taten, die Träume in Wirklichkeit (Jubel), dann können wir auch verzichten auf das geschundene Wort Frieden. (Jubel, rhythmisches Klatschen)

Die offene Erzählform lässt unterschiedliche Beurteilungen zu. Wie etwa über die Rolle Gorbatschows während des Putsches 1991. Manche sprechen von einem stillen Einverständnis Gorbatschows mit den Putschisten, gleichzeitig aber kommen Stimmen zu Wort, die seine Verdienste für den gesellschaftlichen Aufbruch aus der Verkrustung würdigen. So auch Regisseur Nekrasov, den manches im Sowjetsystem an das heutige Russland erinnert, wie er in Berlin erzählt:

"Es gibt einige Parallelen der Endphase der Sowjetunion und der, ich hoffe, Endphase des Systems Putin. Es gibt eine bestimmte Stagnation, einen Mangel an Willen, die Realität zu akzeptieren. Es gibt eine bestimmte Verweigerungstendenz heute bei Putin, wie in der Kommunistischen Partei in der Endphase der Sowjetunion."

"Lebt wohl, Genossen" liefert keine konkrete politische Analyse jener Jahre, sondern eine sehr atmosphärische Innenansicht. Und in den Bildern aus den Jahren der Perestroika vermittelt sich viel von der Aufbruchsstimmung - offene Diskussionen auf den Straßen oder eine kritische Rede des früheren Dissidenten Andrei Sacharow im Parlament. Bilder, die für Nekrasov, dessen kritische Filme im heutigen Russland nicht zu sehen sind, mehr als nur historischen Wert haben:

"Die Stimmung, die wir in der Perestroika hatten, die Freiheit war fast wie eine Mode. Für uns war diese Freiheit wie ein Leuchtturm, für alle. Mit dieser Serie erinnere ich die Leute daran, was wir für eine Freiheitsstimmung hatten. Unter Putin haben das viele vergessen."
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