Als das Keramikkamel zerbrach

08.02.2011
Großmutter ist gestorben, das großbürgerliche Haus muss aufgelöst werden. Die Enkeltochter durchstreift die Räume und die Familiengeschichte – und macht eine untergegangene Welt lebendig.
Als die Dame 1998 hochbetagt stirbt, können sich ihre Kinder und Enkelkinder nicht vorstellen, dass sie nicht mehr da sein soll, dass man sie nicht mehr besuchen, nicht mehr mit ihr Tee trinken, sie nicht mehr anrufen kann. Granny, wie sie von ihrer Familie genannt wurde, war vor ihrer ersten Heirat Bratschistin in einem Damen-Quartett gewesen. Später wurde sie Bildhauerin.

Sie war die schöne Tochter einer jüdischen Familie aus Worms. 1922 heiratete sie einen Schweizer Naturwissenschaftler und siedelte über nach Zürich. Sie war 20 Jahre alt und hatte ein paar Semester Chemie studiert. In der Jugendstilvilla, der mit diesem Buch ein Denkmal gesetzt wird, hatte sie mit Ausnahme der Kriegsjahre, die sie in New York verbrachte, fast 70 Jahre lang gelebt. Die lebenslustige Großmutter war der Mittelpunkt einer großen Familie, mehr noch: Erst durch sie wurden die weitverzweigten Angehörigen zu einer zusammengehörigen Familie. Mit ihrem Tod wird alles anders werden, das weiß auch die Enkeltochter Irène Speiser, die plötzlich das eigene Alter spürt. Nachdem die Großmutter gestorben ist, gehört die Enkelgeneration endgültig nicht mehr zu den Jungen.

Die Autorin spürt der Vergangenheit nach, die unverrückbar geworden ist. Sie will ihre Erinnerungen festhalten, das Bild dieser unabhängigen und besonderen Frau sich und anderen erhalten, dem Tod auf dieses Weise ein wenig trotzen. Darüber hinaus gibt es auch einen praktischen Anlass für diesen Erinnerungsband. Der Nachlass muss geregelt werden, der Hausstand der Großmutter aufgelöst und verteilt werden: Welches Enkelkind bekommt welches Erinnerungsstück, bei wem soll der Kronleuchter künftig hängen, wer nimmt welche Bücher? Inmitten der Trauer über den verlorenen Menschen gilt es, sich mit dem Erbe auseinanderzusetzen. Das Haus muss verkauft werden, auch wenn man es gerne behielte, hier weiter Feste und Treffen veranstaltete; aber die Fenster sind marode, die Bausubstanz ist schwer angegriffen, niemand hat das Geld, um die Villa zu erhalten. Also soll sie wenigstens im Gedächtnis intakt bleiben.

Irène Speiser beschreibt genau: das Treppenhaus, das Musikzimmer, die Bibliothek, das Atelier. Sie erinnert sich an die Frisierkommode, die Fensterläden, den Weg, der zum Haus führte, an die Halle, in der die Gäste begrüßt wurden. Es gibt – wie in jeder Familie – Anekdoten, die an den Gegenständen hängen: Das Keramikkamel etwa, das bei einem kindlichen Fußballspiel herunterfiel, die Telefongespräche, die im "hellgelben Polstersessel" geführt wurden.

Aber es sind nicht nur die Dinge und die Möbel, die die Erinnerungen wachrufen, es geht nicht allein um die schöne und genaue Reminiszenz an das gastfreundliche Haus einer ungewöhnlichen Frau. Erzählt wird hier auch eine jüdische Familiengeschichte, die bis ins 18.Jahrhundert reicht. Von den Spuren, die über den Tod hinaus gehen, davon vor allem handelt dieses Buch auf eindringliche und diskrete Weise.

Besprochen von Manuela Reichart

Irène Speiser: Hausauflösung
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2010
119 Seiten, 18,00 Euro