Alpträume und imperative Ideen

Von Hellmuth Nordwig · 13.05.2012
Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Beispiel wegen einer Blasenentzündung zum Arzt. Der verschreibt Ihnen ein gängiges Antibiotikum – und die Infektion bessert sich zwar, aber zwei Tage später hegen Sie plötzlich Selbstmordpläne...
Medikamente sollen Krankheiten erträglicher machen und im besten Fall heilen. Nebenwirkungen nehmen die Patienten wohl oder übel in Kauf. Weniger bekannt ist aber, dass manche Medikamente Suizidgedanken auslösen. So wie bei diesem Patienten, der in einem Internetforum schreibt:

"… habe als erstes meinen ehemaligen Chef niedergeschlagen und anschließend einen Suizidversuch unternommen. Der wurde zu meinem Glück von vier Polizisten und zwei Rettungssanitätern verhindert, die mich mit aller Gewalt von einer Autobahnbrücke entfernten."

Eigentlich wollte er nur aufhören zu rauchen. Sein Arzt hatte ihm Champix verschrieben. Eine Tablette, die einem die Lust an Zigaretten austreibt. Doch auf einmal kam der starke Drang, sich umzubringen. So etwas gibt es nicht nur bei Champix.

"Das sind meistens keine Menschen, die schon eine Suizidalität in der Vorgeschichte hatten. Und die zum Beispiel wegen eines Harnwegsinfekts ein Antibiotikum einnehmen und wenige Tage danach ein fast unbeherrschbares Bedürfnis, sich umzubringen, verspüren, was sie noch nie gekannt haben."

… sagt der Pharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen. Der Berliner Arzt gehört der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft an, die unerwünschte Wirkungen von Medikamenten dokumentiert. Darunter rund 1500 Mal Suizidgedanken. Zum Beispiel bei Antibiotika aus der Gruppe der sogenannten Gyrasehemmer:

"Da haben wir sehr viele Meldungen zu Nebenwirkungen, insgesamt über 5000. Davon betreffen 174 Suizidalität und Depression. Und da haben wir immerhin 30 Suizidversuche und 12 vollendete Suizide."

Insgesamt also eine seltene, aber umso schwerwiegendere Nebenwirkung. Sie ist auch bei anderen Medikamenten aufgetreten, etwa beim Grippemittel Tamiflu bei Jugendlichen oder bei einem Aknepräparat. Die Apothekerin Alexandra Enter von der Münchner Stachus-Apotheke weist hier auf eine zusätzliche Gefahr hin:

"Was wichtig ist, dass diese suizidalen Gedanken auch nach Absetzen der Medikamente auftreten können. Das ist bekannt bei dem Aknemittel Aknenormin mit dem Wirkstoff Isotretinoin. Da ist es auch nach Absetzen vorgekommen, dass die Patienten Selbstmordgedanken hatten oder Suizid begangen haben."

Bei modernen Antidepressiva besteht diese Gefahr nach dem Absetzen nicht. Doch auch sie können Suizidgedanken hervorrufen. Bruno Müller-Oerlinghausen hat den Fall einer Patientin vor Augen, der ein solches Medikament verschrieben wurde:

"Dann traten bei ihr, wie wir sagen, imperative, also beherrschende Suizidideen auf. Sie ist wieder hingegangen und hat gesagt: Ich habe so etwas in meinem Leben noch nicht gehabt, hier stimmt etwas nicht. Und wie man es dann abgesetzt hat, war der ganze Spuk vorbei. Das sind die gefährlichen Situationen."

Denn gerade bei depressiven Patienten ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen: Hat das Bedürfnis, sich das Leben zu nehmen, mit der Krankheit zu tun, oder ist das Medikament Schuld daran? Doch inzwischen hat die Arzneimittelkommission viele eindeutige Fälle dokumentiert. Sie rät deshalb den Ärzten, die solche Medikamente verschreiben, ihre Patienten auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Und ihnen außerdem anzubieten:

"Ich rufe Sie morgen wieder an. Und wenn es schlimmer wird, versprechen Sie mir, dass Sie mich kontaktieren. Also man muss, wie wir sagen, einen Pakt mit den Patienten schließen. Aber auch das kann nicht immer verhindern, diesen plötzlichen Drang sich umzubringen, dass der Mensch sich plötzlich vor den Zug legt."

Was im Gehirn schief läuft, wenn Medikamente Menschen in den Suizid treiben, ist eine wichtige Frage für die Forschung. Für die Praxis wäre es vordringlicher, dass Ärzte besser über die "Nebenwirkung Suizid" Bescheid wissen. In Fortbildungen wird diese Gefahr nämlich kaum thematisiert. Nicht überall sind die Fachleute so aufmerksam wie in der Apotheke von Alexandra Enter:

"Vorkommen tut es bei uns immer wieder mit einem HIV-Medikament, das nennt sich Sustiva mit dem Wirkstoff Efavirenz. Wir haben noch keinen Fall erlebt, dass sich Patienten wirklich umgebracht hätten, aber bei dem Medikament hören wir häufig, dass es zu Halluzinationen kommt, zu sehr regen Träumen und Alpträumen. Und man hat auch einen Zusammenhang festgestellt zwischen Alpträumen und Selbstmordrealisierung. Wir arbeiten da sehr eng mit der Praxis zusammen, die achtet da sehr darauf. Wenn so etwas vorkommt, wird, wenn das möglich ist, das Medikament umgestellt."

Nach Meinung der Arzneimittelkommission sollte in den Beipackzetteln viel deutlicher auf die Gefahr hingewiesen werden. In den USA ist eine solche Warnung Pflicht. Bei uns findet man sie nur im Kleingedruckten – wo es bei einem Antibiotikum zum Beispiel heißt, dass es "in seltenen Fällen" zu einem Suizidversuch kommen kann. Dann sollte man das Medikament sofort absetzen, heißt es. Ein zynischer Rat, der für manchen zu spät kommt.