Alltagstaugliche Hanseaten

Von Rainer Link |
Seit Anfang 2005 gilt in Deutschland das so genannte Zuwanderungsgesetz. Es sieht vor, dass alle Ausländer, die sich für einen längeren Aufenthalt in Deutschland entscheiden, einen Integrations- und Sprachkurs absolvieren sollen. Den bietet z.B. die Hamburger Sprachenschule "Independencia". Menschen aus allen Teilen der Welt mühen sich hier an den Schwierigkeiten der deutschen Sprache ab - freiwillig und hoch motiviert.
Montag früh. Halb Zehn in der Hamburger S-Bahn. Anna auf ihrem täglichen Schulweg.

"Ich fahre mit der Bahn, erst ich bringe meinen Sohn zum russischen Kindergarten in Wandsbek Markt, dann zurück nach Hauptbahnhof und dann von hier mit der S-Bahn."

Ansage: "Nächste Station S-Bahn Sternschanze, Ausgang links, Umsteigen in die U 3."

Anna ist auf dem Weg in die Sprachenschule "Independencia", einer kleinen Privatschule am Rande des Hamburger Schanzenviertels. In einem alten, lichtdurchfluteten Fabrikgebäude findet der Unterricht für die Schüler aus allen Teilen der Welt statt. Die Klassenzimmer sind großzügig geschnitten, so dass man sich auf Anhieb wohl fühlen kann.

Besuch in der Klasse A2. "A" steht für Anfänger, die "2" für die zweite Halbzeit des Kurses.

"Hallo, ich heiße Fatima, ich komme aus der Dominikanischen Republik."
"Hallo, ich heiße Anna und komme aus Russland."
"Hallo, ich heiße Marcella, ich komme aus Chile."
"Hallo, mein Name ist Wang, ich komme aus China."
"Hallo, ich heiße Hong und komme aus Vietnam."
"Hallo, ich heiße Roseo, ich komme aus Peru."
"Ich bin Nina, ich komme aus Guinea Bissao."

Fehlt nur noch die Lehrerin:
"Hallo, mein Name ist Ina, ich komme aus Deutschland."

Nur jeweils vier Klassen werden bei Independencia parallel unterrichtet. Ina und ihre Lehrerkolleginnen verfügen alle über eine spezielle Zusatzausbildung für die Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache. Das Goethe Institut bietet solche pädagogischen Weiterbildungen an und nimmt auch gleichzeitig die Abschlussprüfungen vor. Das garantiert professionellen Fremdsprachunterricht auf neuestem fachlichen Stand.

"Guten Morgen, lieber Schülerinnen und Schüler. Ich hoffe, ihr hattet ein schönes Wochenende. Und damit ihr alle wieder ein bisschen Deutsch sprecht, machen wir jetzt eine kleine Übung, ein Spiel. Diese Übung heißt, "Kofferpacken". Ich packe meinen Koffer und nehme einen blauen Pullover und eine rote Hose mit... "
"Ich packe meinen Koffer und nehme eine rote Hose und einen blauen Pullover und blaue Tasche und schwarze Brille mit. "
"Ich packe meinen Koffer und nehme eine rote Hose... und ein gelbes T-Shirt. Schwarze.... und eine gelbes T-Shirt, äh, ein gelbes T-Shirt."

Deutsch lernen alleine ist schon schwer. Hinzu kommen die vielen Anglizismen, die sich in die deutsche Sprache eingenistet haben: "Coffee to go", "Ipod" oder "Second hand" .

"'Second hand', .... Second ist in deutsch 'zweite' und hand ist 'Hand' . Also die Sachen auf dem Flohmarkt sind billig, weil sie nicht neu sind, ja. Aber manchmal ganz schön."

Die Voraussetzungen der Schüler sind recht unterschiedlich. Da sind zunächst einmal die verschiedenen Bildungsniveaus. Einige haben es in ihren Heimatländern zu Hochschulabschlüssen gebracht, andere haben nur wenige Jahre eine Schule besuchen können. Wer aus einem Land stammt, in dem das europäische Alphabet unbekannt ist, oder wo gar die Schriftzeichen von rechts nach links geschrieben werden, hat es besonders schwer. Damit Schüler mit unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen nicht in der gleichen Klasse landen, findet ein obligatorischer Eingangstest statt.

"Wir machen zusätzlich darüber hinaus noch ein persönliches Gespräch und befragen die Schüler, welche Schulen haben sie denn schon besucht. Dann hört man einerseits natürlich, welches Niveau er haben müsste, aber in dem Gespräch hört man auch, ob alles verstanden ist, ob er dieses Niveau, das er eigentlich haben müsste, auch wirklich hat."

Seit Anfang 2005 gilt in Deutschland das so genannte Zuwanderungsgesetz. Es sieht vor, dass alle Ausländer, die sich für einen längeren Aufenthalt in Deutschland entscheiden, einen Integrationskurs absolvieren sollen. Wie viele Unterrichtsstunden die Schüler erhalten und welcher Stoff vermittelt wird, ist bundeseinheitlich geregelt, erläutert Erhan, er ist der Direktor der Sprachenschule "Independencia", in Istanbul geboren und seit 25 Jahren in Hamburg - mit türkischem Pass.

"Die Behörde zahlt 600 Unterrichtsstunden plus 30 Stunden so genannter Orientierungskurs, also das heißt Landeskunde und Politik. Wenn die Teilnehmer arbeitslos sind, dann übernimmt der Staat das ganze Geld. Wenn aber sie arbeiten, zahlen sie die Hälfte selber und die andere Hälfte bekommen wir vom Staat. Das bedeutet insgesamt 2 Euro und 5 Cent pro Unterrichtsstunde. Wir bekommen ein bisschen mehr als 1.200 Euro pro Teilnehmer, wenn er die ganze Zeit den Deutschkurs in Anspruch nimmt."
Das Zuwanderungsgesetz sieht eine Kursdauer von einem halben Jahr vor. Das ist aus Sicht der Fremdsprachenpädagogen zwar eine Verbesserung zu früheren Regelungen, aber immer noch eindeutig zu kurz.

"Sie können jetzt nach diesem Kurs das Minimum der deutschen Grammatik, es ist aber in keinem Fall ausreichend, um sich in täglichen Situationen gut zurecht finden zu können; gerade auch in Spontansituationen, wo sie schnell reagieren müssen, sofort verstehen müssen und dann vor allem entsprechend schnell antworten zu können."

Im Klassenraum sitzt der Buddhist neben dem Moslem und der Christin; die Russin sitzt neben dem Tschetschenen und der Kurde neben dem Türken. Religionszugehörigkeit soll keine Rolle spielen und politische Konflikte sollen den Unterricht nicht belasten. Dies aber gelingt nur, wenn in einer Atmosphäre aus Neugier und Offenheit über die Unterschiede gesprochen wird.

"Ich versuche gleich vom ersten Tag an einen guten Kontakt zwischen den Schülern herzustellen, dass es normal ist, das moslemische Schüler am Freitag oft um halb 12 Uhr aus dem Unterricht gehen, weil sie dann in ihre Moschee gehen. Und dann wird nicht komisch geguckt, sondern es etwas normales bekommt."

Der Frauenanteil unter den Sprachschülern ist überraschend hoch - geschätzte 70 Prozent.
"Es ist oft so, dass der männliche Ehepartner arbeitet und die Frau dann an dem Deutschkurs teilnehmen kann. In der Regel lässt sich das für die Schüler ganz gut organisieren, die Kinder sind dann im Kindergarten. Dann ist eben der Ehepartner da, um das Geld zu verdienen. Es gibt natürlich auch Schülerinnen und Schüler, die alleine leben, da stellt sich das schon sehr anstrengend dar. Also, ich habe Schülerinnen, die stehen morgens um 4 Uhr auf und gehen Putzen von 5 bis 8 und kommen dann zur Schule, und Nachmittags haben sie dann vielleicht noch einen kleinen Job."
Alle, die hier dem Unterricht folgen, haben einen sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland. Sei es, dass sie aus einem Land der Europäischen Union kommen, sei es, dass sie einen deutschen Partner geheiratet haben, sei es, dass sie als politischer Flüchtling asylberechtigt sind...

"....oder es sind die Bestandsausländer, die schon lange in Deutschland leben, also der Großteil strebt an, dauerhaft hier zu bleiben."

Wer aus fernen Ländern nach Deutschland kommt, erleidet häufig einen kleinen Kulturschock. Die Verhältnisse erscheinen fest gefügt und unverrückbar und die Menschen wirken auf viele Neuankömmlinge fremd und unnahbar. Immigranten, die aus südlichen Regionen der Erde stammen, empfinden die Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse besonders stark.

"Ich denke, das Wetter hier ist auch dran schuld, verstehen Sie? Wenn man in ein warmes Land kommt, dann ist es ganz anders. Man ist locker, man spricht anders, es ist alles anders. Auch ich in Deutschland werde ein bisschen anders."

Der Unterricht beginnt morgens erst um 10 Uhr. Dieser späte Start ermöglichst den Schülern den Kauf einer verbilligten Monatsfahrkarte. Es folgen sechs Unterrichtsstunden, in denen gesprochen, zugehört, diskutiert und geschrieben wird, und ohne Grammatik geht gar nichts.

In 30 Unterrichtsstunden sollen die ausländischen Teilnehmer mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland vertraut gemacht werden. Parlamentarismus, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Gleichberechtigung der Geschlechter all diese Begriffe stehen auf dem Lehrplan und sollen den Neubürgern fortan keine Fremdworte mehr sein.

In Erhans Klasse wird die Frage "Wie demokratisch ist mein Herkunftsland?" diskutiert. Eine Fragestellung, die alle Schüler unmittelbar berührt.

"Ich komme aus der Türkei, Brasilien ist da, Kuba, Peru, Russland ist da. Iran, Ukraine etc. Argentinien - aus verschiedenen Ländern sind wir. Sind diese Länder alle demokratisch? Nein, Nein. Man darf seine Meinung nicht frei sagen. ..Freie Meinungsäußerung.....Freiheit ist immer ein Fragezeichen. Wir sind frei, wir dürfen reisen. Aber wenn ich kein Geld habe, dann darf ich nicht reisen... Eine der wichtigsten Punkte sind ja freie Wahlen, stimmt's? Ja, ja. In jedem Land von uns gibt es Wahlen, stimmt? In Kuba auch, in der Türkei auch, in Deutschland auch. Aber ihr sagt: Nein, das ist nicht demokratisch."

In 30 Unterrichtsstunden die westliche Demokratie in den Köpfen zu verankern - das wäre mehr als ein utopisches Ziel, sagt Schulleiter Erhan.

"30 Stunden ist ja eine symbolische Zeit, weil in 30 Stunden kann man auch nichts rüber bringen. Wir versuchen, das System in Deutschland aus vielerlei Gesichtspunkten, also das politische System, das kulturelle System, die wichtigsten Bausteine der Bundesrepublik Deutschland versuchen wir mit den Teilnehmern zu diskutieren."

Seit das Zuwanderungsgesetz vor zwei Jahren in Kraft trat, hat sich die Zahl der Schüler in der Sprachschule Independencia stabilisiert und kontinuierlich erhöht. Fast alle Teilnehmer kommen freiwillig, dementsprechend hoch ist die Motivation. Nur ein ganz kleiner Kreis der Teilnehmer wurde geschickt, beispielsweise von der Bundesagentur für Arbeit.

Und hier liegt ein Problem: denn Schüler, die nicht aus eigenem Antrieb zum Unterricht kommen, sind lustlos und manchmal sogar destruktiv. Viele große Sprachenschulen, die von Arbeits- und Sozialbehörden Teilnehmer en bloc und im großen Stil zugewiesen bekommen, beklagen Disziplinlosigkeit und eine schlechte Lernatmosphäre in ihren Einrichtungen.

Der pädagogische Grundsatz, dass Lernen nur unter den Bedingungen der Freiwilligkeit erfolgen kann, ist im Zuwanderungsgesetz allerdings nicht verankert. Dennoch gilt dieses Gesetz trotz allerlei Unzulänglichkeiten unter Pädagogen und Bildungspolitikern als großer Fortschritt. Und so macht Erhan nur eine einzige Einschränkung:
"Diese Gesetz ist - ich glaube alle Beteiligten teilen meine Meinung - ist viel zu spät gekommen."
Ausländer sollen sich integrieren - so verlangt es die Politik. Sie sollen deutsche Kultur verstehen und deutsche Werte leben. Hochgesteckte Ziele, die durch einen Halbjahreskurs allein sicher nicht erreicht werden können. Integration steht am Ende eines langen Prozesses und stellt nicht die Eingangsvoraussetzung für den Aufenthalt in Deutschland dar. Manche Anforderungen an die Neubürger sind zudem nicht nur unrealistisch, sie sind geradezu unfair, findet Erhan:

"Es werden Sachen verlangt von den Menschen mit Migrationshintergrund, die man von Deutschen a) nicht verlangt und b) auch nicht verlangen kann. Was mich stört, ist: Plötzlich ist jeder Deutsche ein Demokrat und die anderen sind die, die das lernen müssen. Plötzlich ist jeder deutsche Mann ein emanzipierter Frauenrechtler und jeder andere Mann muss das zuerst mal lernen. Das ist eine Art von Diffamierung, das ist die Verblendung von Tatsachen. Und das ist eben das, wovon die meisten Ausländer immer wieder in ihren Äußerungen sagen: Diese Gesellschaft ist arrogant."