Alltagsnotizen und ein Rohdiamant

In diesem Band finden sich Aufsätze übers Schreiben, Besprechungen von Werken anderer Literaten sowie eine kleine Auswahl von Erzählungen des amerikanischen Short-Story-Meisters. Diese sind hervorragend übersetzt und in jedem Fall lesenswert.
Was wäre das wohl für ein Film geworden! 1982 erreichte Raymond Carver eine Anfrage des Regisseurs Michael Cimino, dessen legendärer Western "Heaven’s Gate" kurz zuvor an den Kinokassen gefloppt war. Der Oscar-Preisträger Cimino hatte eine Idee, oder sagen wir: eine Obsession.

Er wollte das Leben Fjodor Dostojewskis auf die Leinwand bringen. Das Drehbuch sollte ausgerechnet Raymond Carver schreiben, der bis dato überhaupt noch keine Erfahrungen mit dem Film hatte. Man traf sich in New York, und Carver verfasste ein Skript, dessen Länge von 220 Seiten dem mit Mammutprojekten vertrauten Cimino "überglücklich" strahlen ließ.

Aber realisiert wurde der Film seltsamerweise nie. Cimino habe das Drehbuch "beiseitegelegt und sich anderen Projekten zugewandt", schreibt Carver in der ihm eigenen Lakonie rückblickend 1984 in einem der hier versammelten Essays.

Viel näher als Dostojewski freilich war ihm ein anderer russischer Erzähler: Anton Tschechow. Seinem Hausgott Tschechow und dessen Sterben widmete der todkranke Carver seine letzte, ergreifende Erzählung "Botengang", zu der sich im vorliegenden Taschenbuch einige aufschlussreiche Erläuterungen finden.

Wie dieser Band überhaupt "Carvers Erläuterungen" genannt zu werden verdiente, versammelt er doch zahlreiche Anmerkungen zum eigenen Œuvre. Es finden sich darin Aufsätze übers Schreiben. Eine seiner Maximen ging auf einen Satz Isaak Babels zurück, der lautet: Kein Eisen kann mit solcher Kraft das Herz durchstoßen wie ein genau an der richtigen Stelle gesetzter Punkt. Außerdem Besprechungen, unter anderem der Briefe Sherwood Andersons, eines weiteren Meisters der amerikanischen short story, dem sich der Rezensent einfühlsam nähert. Und eine Auswahl früher sowie postum veröffentlichter Erzählungen, die erstmals 2002 in dem Band "Erste und letzte Storys" auf Deutsch erschienen, meisterhaft übersetzt von Helmut Frielinghaus.

Zum hier präsentierten Spätwerk Carvers zählt auch die Titel gebende Geschichte "Ruf an, wenn du mich brauchst". Es ist ein literarischer Rohdiamant. Dan und Nancy haben sich im Laufe der Jahre auseinandergelebt, haben einander mit anderen betrogen und wollen es noch einmal miteinander versuchen. Hauptsächlich des gemeinsamen Sohnes wegen, darf man vermuten. Sie geben Richard zur Großmutter und fahren in ein Sommerhaus an der kalifornischen Küste. Anfangs scheint das Paar das verloren gegangene Gefühl der Vertrautheit wiederaufleben lassen zu können. Doch am Ende steht die bittere Erkenntnis, sich schon zu weit voneinander entfernt zu haben.

Über die Liebe und über Freundschaft verstand Carver wie kein zweiter erzählend nachzudenken. Ein bewegendes Dokument ist deshalb auch sein Blick auf die Freundschaft mit den zwei anderen dirty realists Tobias Wolff und Richard Ford. Schmutziger Realist, der er war, machte er sich nie etwas vor:

"Würde ich für einen meiner Freunde einen Platz in einem Rettungsboot aufgeben, mit anderen Worten sterben? Ich zögere, aber […] die Antwort ist ein unheroisches Nein. Das würden die anderen auch nicht für mich tun, keiner von ihnen, und ich würde es gar nicht wollen."

Besprochen von Knut Cordsen

Raymond Carver: Call if you need me - Erzählungen und Essays
Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus sowie Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Fischer Taschenbuch, Frankfurt / Main 2013
398 Seiten, 9,99 Euro