Alltag am Abgrund
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sterben im Osten des Kongo jeden Tag 1200 Menschen an den Folgen des Krieges. Insgesamt sind es mehr als fünf Millionen Tote seit der Krieg 1996 ausbrach. Viele der Toten sind Frauen, die nach Vergewaltigungen sterben.
Es ist heiß in den Bergen des Ruwenzeri-Gebirges im Osten der Demokratischen Republik Kongo, mehr als Tausend Meter über dem Meeresspiegel. In dem Dorf Miobwe drängen sich an diesem Nachmittag ein paar Tausend Menschen um eine Halle aus Backsteinen. Die Schlange der Wartenden windet sich an Bananenstauden, Kaffeefeldern und Stroh gedeckten Hütten in einer Spirale die kleine Anhöhe hinauf, auf der die Halle steht. Hier und da sitzen die Menschen in kleinen Gruppen auf dem Boden und teilen einen Sack mit Reis oder Bohnen unter sich auf. Dieses Teilen und Geben sieht sehr einvernehmlich aus.
Masika Marsiane füllt ihre Ration in eine Plastikschüssel, die noch ganz neu aussieht: "Sie haben uns das so erklärt: Jeder Sack Reis wiegt 105 Kilo und ist für sieben Familien gedacht. Warum sollten wir also um unsere Ration streiten? Sie haben uns ja gesagt, dass ein Sack nicht nur für eine Familie ist."
"Sie", das sind die Mitarbeiter der kongolesischen Hilfsorganisation PAP. In friedlichen Zeiten kümmern sie sich um die Belange der gesellschaftlich benachteiligten Pygmäen, eines Volkes von Waldbewohnern im Kongo. Doch die Zeiten sind nicht friedlich - im Kongo ist Krieg und in diesen Zeiten hilft PAP nicht nur den Waldbewohnern, sondern auch anderen Menschen, die ums Überleben kämpfen.
Jackson Basikany: "In den letzten Tagen sind hier um die 4200 Familien angekommen. Sie sind vor den Angriffen radikaler Hutu-Kämpfer geflohen, die erst kürzlich wieder etliche Dörfer angegriffen haben. Allein diese neue Gewaltwelle hat ungefähr 70.000 Familien vertrieben – 70.000 Familien in einem Gebiet von nur 70 oder 100 Kilometern! Aber auch in einem viel größeren Umkreis ist die Gegend unsicher. Die Menschen trauen sich nicht mehr, ihre Felder zu bestellen, ihr Besitz wird geplündert, ihre Häuser werden verbrannt – die Lage ist katastrophal."
Jackson Basikany leitet die Hilfsorganisation, die gerade in dem Dorf Miobwe verteilt, was die Vertriebenen am Nötigsten zum Überleben brauchen: Reis und Bohnen, Wasserkanister, Tassen und Teller, Feldhacken, Wolldecken, Kleidung und andere Haushaltsgegenstände. Die Menschen sind mit leeren Händen hierher geflohen, weil der Ort an einer der Hauptverkehrsadern liegt und deshalb als relativ sicher gilt. Das Geld für die Hilfsgüter bekam PAP von der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe, die Vertriebene in Region durch mehrere Programme unterstützt.
Masika Marsiane, die jetzt mit Reis und Bohnen im Gras sitzt, ist im Januar mit ihren sieben Kindern aus ihrem Heimatdorf geflohen. Für den seit Jahren vertrauten Albtraum hat sie nur noch ein paar dürre Worte: "Das Dorf wurde angegriffen, die Hütten verbrannt und die Frauen vergewaltigt."
Die Täter seien diejenigen gewesen, "die sich im Busch verstecken", sagt Masika Marsiane. Sie meint damit eine radikale Hutu-Miliz mit dem Namen FDLR, "Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas". Die Stärke dieser Miliz wird auf 6.000 Kämpfer geschätzt. Schon der Name verrät: Der Krieg im Kongo hat viel mit dem Nachbarland Ruanda zu tun. Viele der radikalen Hutu-Kämpfer waren 1994 an dem Völkermord an der Tutsi-Minderheit im benachbarten Ruanda beteiligt. Rund 800.000 Menschen – Tutsi und gemäßigte Hutu – wurden damals binnen weniger Wochen ermordet. Anschließend flohen die Täter über die Grenze in den Kongo und halten sich dort bis heute verschanzt. Sie überfallen Dörfer, plündern, brandschatzen und morden grausam.
Jackson Basikany: "Vor zwei Tagen wurden nur 16 Kilometer entfernt von hier Dörfer abgebrannt und geplündert. Nur 16 Kilometer entfernt! Vor drei Tagen wurden mehr als 100 Häuser in Kanyabayonga in Brand gesetzt, die Bewohner vertrieben und ihr Besitz geplündert. Aus Sicht der Politiker entwickelt sich vielleicht alles prächtig. Aber unsere Sicht ist anders. Wir sind hier vor Ort sind, wir helfen den Vertriebenen und leben mit ihnen. Wir wissen: Die Lage ist katastrophal. Wir sind ja noch nicht einmal hier in Sicherheit! Aber obwohl es gefährlich ist, müssen wir an der Seite der Vertriebenen bleiben und ihnen helfen."
5,4 Millionen Tote – das ist einer Untersuchung zufolge die vorläufige Bilanz des Kongo-Krieges, der 1996 begann. Und die Zahl der Toten steigt täglich: Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sterben im Osten des Kongo jeden Tag 1.200 Menschen an den Folgen des Krieges. Viele der Toten sind Frauen, die den Folgen brutalster Vergewaltigungen erliegen. Nach Schätzungen von Fachleuten wurden seit Beginn des Krieges 500.000 Frauen vergewaltigt. Viele sterben unmittelbar an den ihnen dadurch zugefügten Verletzungen, andere später an Aids und anderen Geschlechtskrankheiten. Etliche Überlebende sind infolge der Verletzungen unfruchtbar. Die nationale kongolesische Armee ist nur für einen Teil dieser und anderer Kriegsverbrechen verantwortlich – doch ihre Mittäterschaft macht die Bevölkerung besonders hilflos. Denn wenn nicht einmal die Armee die Zivilbevölkerung verteidigt, verlieren die Menschen jede Aussicht auf Schutz.
Das Verhalten der kongolesischen Truppen ist Symptom für den Zerfall des kongolesischen Staates. Denis Tull von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin forscht seit Jahren über den Kongo:
"Manche bezeichnen das als Schattenstaat, d.h. also: ein System, in dem die bürokratischen Strukturen nicht tonangebend sind, sondern Netzwerke privater Beziehungen die größte Rolle spielen, die die Inhaber staatlicher Ämter mit Interessengruppen, mit Klientelgruppen verbinden, und wenn dieses System zu weit getrieben wird, wenn zu viele Ressourcen von diesen Eliten verschlungen werden, ohne wieder in die Gesellschaft zurückzufließen, dann stellen diese Gruppen in der Gesellschaft ihre Loyalität ein."
Bis 1997 wurde die Demokratische Republik Kongo, damals Zaire, von dem langjährigen Diktator Mobutu Sese Seko regiert. Mobutu hatte nur eine Staatsraison: Den Erhalt der eigenen Macht. Statt mögliche Gegner zu bekämpfen, kaufte er sie – und verschwendete dafür den Reichtum des Landes. Die Folge: Für die eigentlichen Aufgaben des Staates war kein Geld da. Schon unter Mobutu gab es so gut wie keine öffentlichen Dienstleistungen mehr.
Alois Tegera ist Direktor des POLE-Instituts, eines renommierten Think-Tanks in der ostkongolesischen Stadt Goma:
"Schon sehr lange gibt es hier anstelle des Staates ein Vakuum. Trotzdem hat die ganze Welt jahrelang geglaubt, sie hätte es noch immer mit einem Staat zu tun. Tatsächlich aber ist dessen Abwesenheit zu einem ernsten Problem geworden. Dem Staat ist es nie gelungen, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu vermitteln. Wenn aber ein Staat diesen Interessenausgleich nicht leistet, verliert er seine Existenzberechtigung. Die unweigerliche Folge ist das absolute Chaos – und genau das haben wir hier im Kongo."
Von den Folgen kann auch der Bauer Siril Kambale erzählen. Es war eine Nacht im April, im Dorf Bulotua, einer der zahlreichen betroffenen Orte in der Provinz Nord-Kivu. Siril Kambale und seine Frau lagen mit ihren sechs Kindern in einem Kaffeefeld, geduckt und mucksmäuschenstill. Es war abends gegen neun Uhr, die Dunkelheit der Tropen lag schon seit einigen Stunden über dem Dorf. Kambale war gerade auf dem Weg ins Bett, als er sah, dass die Hütte seines Nachbarn lichterloh brannte. Voller Panik weckte er und seine Frau die Kinder und floh mit ihnen in den nächstliegenden Acker. Da lagen sie dann und spähten vorsichtig über den Feldrain. Sogar die Kinder waren ganz still, selbst die Jüngsten; Kambale hatte ihnen nicht viel erklären müssen, sie spürten die Gefahr, die in der Luft lag. Neben der brennenden Hütte der Nachbarn stand eine Gruppe von Soldaten.
Siril Kambale: "Dann sah ich ein paar Soldaten auf mein Grundstück zulaufen. Einer von ihnen gab einen Schuss ab und rief seinen Kollegen zu, er habe auf dem Grundstück meiner Nachbarn zwei Zivilisten und einen Soldaten gesehen. Seine Kollegen liefen zu ihm, dabei erwähnten sie den Namen Kambale. Dann gingen sie die Böschung hoch zur Straße. Zu der Zeit brannte mein Haus noch nicht. Von meinem Versteck aus sah ich, wie sie kurz später mit ihrem Kameraden zurückkamen und zu dem brennenden Haus meines Nachbarn gingen. Meine Hütte brannte immer noch nicht."
Allmählich wurden die Kinder unruhig und Kambale bekam Panik. Trotzdem schaffte er es, auch die Kleinsten noch einmal ruhig zu kriegen. Er spähte wieder hoch und sah, wie sich einer der Soldaten aus der Gruppe der Militärs am Nachbarhaus löste und zu seiner Hütte ging.
"Ich konnte sehen, wie dieser Mann die erste, kleinere Hütte auf meinem Grundstück anzündete – ich hatte zwei Hütten auf meiner Parzelle. Dann hat er sich gebückt, etwas von dem brennenden Material aufgehoben und es auf meine größere Wohnhütte geworfen. Der Mann war bewaffnet. Wenn er lief, hörte ich, wie sein Gewehr mit einem metallischen Scheppern auf seinen Rücken schlug – ein ganz typisches Geräusch. In unserem Versteck lag auch die Ehefrau des Schuldirektors, die hat das auch gesehen und gehört. Nachdem der Soldat meine beiden Hütten angezündet hatte, ging er zu der Gruppe der anderen Militärs zurück."
Michel Tshonge Kikere hat Fälle wie diesen aufgeschrieben: Jede Hütte, die in Bulotua abgebrannt ist, mit Datum und Besitzer vermerkt. Es ist seine Pflicht, das zu tun: Er ist der Mwami des Dorfes, das traditionelle Oberhaupt. Er hat ein dickes Buch mitgebracht, in dem er mit Kugelschreiber säuberlich jeden einzelnen Vorfall notiert hat. Dazwischen hat er mit Bleistift und Lineal feine Linien gezogen. Leider hat der Mwami an diesem Morgen seine Lesebrille vergessen, aber das Wesentliche hat er ohnehin im Kopf: An vier Tagen hintereinander haben hier in jüngster Zeit die Hütten gebrannt. Und wie die Dorfbewohner dem Mwami erzählten, waren unter den Tätern häufig Soldaten der Regierung.
Michel Tshonge Kikere: "Wir verstehen nicht, warum sie manche Hütten auswählen und andere verschonen. Seit Anfang des Jahres ist die hier stationierte Brigade vor Ort. In ihren Reihen gibt es offenbar viele Konflikte. Sie scheinen sich über das militärische Vorgehen nicht einig zu sein. Vielleicht gibt es noch andere Probleme, zum Beispiel zwischen dem Kommandanten und seinem Stellvertreter. Es handelt sich um eine gemischte Einheit, sie besteht aus Regierungssoldaten und ehemaligen Milizionären. Wir haben den Eindruck, dass diejenigen, die Hütten in Brand setzen wollen, einfach mit auf Patrouille gehen und sich unterwegs von der Einheit lösen. Seit wir diese Brigade hier haben, fangen die Hütten oft gerade dann an zu brennen, wenn die Militärs zehn oder 15 oder 30 Meter entfernt sind. Aber dann sind sie häufig als erste vor Ort und helfen beim Löschen. Sobald die Bewohner geflohen sind, fangen sie an zu plündern."
Der Dorfchef kann nicht sagen, ob die Bevölkerung mehr unter den radikalen Hutu-Milizionären leidet – oder unter den Angehörigen der eigenen Armee.
Michel Tshonge Kikere: "Sie sind alle gleich. Wir haben ja nicht zum ersten Mal mit der Armee Probleme, und die Soldaten setzen auch nicht zum ersten Mal unsere Häuser in Brand. Im letzten Dezember hat die Armee hier in der Gegend systematisch geplündert. Kongolesische Regierungssoldaten! Bestimmt zehn Brigaden waren beteiligt. Sicher, die Soldaten kriegen keinen Sold, aber damit kann man dieses allgemeine und systematische Plündern nicht erklären. Nein, das scheint regelrecht organisiert zu werden – es ist ein Kriegsverbrechen! Und es hat dazu geführt, dass die Menschen, für die ich verantwortlich bin, inzwischen völlig verarmt sind. Man hat ihnen alles genommen. Alles! Restlos! Einige haben versucht, mit ein paar Besitztümern in den Wald zu entkommen – aber selbst da wurden sie aufgespürt und ausgeplündert. Sogar ihre Ernten wurden gestohlen. Selbst in diesem Moment, in dem wir hier sitzen und uns unterhalten, wird im Busch geplündert und gemordet. Die Täter sind Regierungssoldaten und Milizionäre."
Colonel Bahumisa Chuma: "Wer so etwas sagt, versucht, die Moral unser Truppen zu untergraben. Der will erreichen, dass die Soldaten beim nächsten Brand keine Hilfe mehr leisten. Natürlich ist das alles eine Lüge: Der Auftrag der Armee ist der Schutz der Bevölkerung und ihres Besitzes – und nicht dazu da, die Hütten anzuzünden!"
Der Kommandant des Sektors, Oberst Bahumisa Chuma, gibt außerdem zu verstehen, dass auf die "Unterwanderung der Moral der Truppen" hohe Gefängnisstrafen stehen. Und dass diese Gesetze auch für ausländische Journalisten gelten, die vielleicht die falschen Fragen stellen. Die Vereinigung von Regierungsarmee und Rebellen sei im Übrigen sehr erfolgreich gewesen, meint der Kommandant. Im Frühjahr unterzeichnete die kongolesische Regierung einen Friedensvertrag mit dem "Nationalkongress zur Vereinigung des Volkes", kurz CNDP, des inzwischen verhafteten Generals Laurent Nkunda. Nkunda war ursprünglich bei der kongolesischen Armee, gegen die er dann rebellierte, bevor er seine eigene Miliz gründete. Menschenrechtsgruppen werfen auch dieser Miliz zahlreiche Kriegsverbrechen vor. Im Januar wurde Nkunda vom ruandischen Militär verhaftet, seine Truppen in die kongolesische Armee integriert - mit verheerenden Folgen.
Denis Tull: "Die Sicherheitslage im Osten, vor allem in den Regionen Nord- und Süd-Kivu ist heute vermutlich noch schlimmer als während des offiziellen Krieges, der von 98 bis 2002 gedauert hat."
Noch einmal Denis Tull von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin:
"Die kongolesische Armee, ungeachtet mal ihrer geringen militärischen Fähigkeiten, ist einfach an Sammelsurium an Gruppen, die heutzutage wie Wegelagerer daher kommen, die von der Regierung nicht unterstützt werden, es gibt keine logistische Unterstützung, es gibt keine medizinische Versorgung – diese Truppen leben auf dem Rücken der Bevölkerung, die Zahl der Vergewaltigungen, der sexuellen Gewalt, hat sich noch mal deutlich erhöht, und zwischen all diesen Fronten befindet sich dann noch die Friedensmission der Vereinten Nationen, die aufgrund ihrer geringen Truppenstärke, aber auch mangels Helikoptern nicht dazu in der Lage ist, einen zentralen Pfeiler ihres Mandats wahrzunehmen, nämlich den Schutz der Zivilbevölkerung zu leisten."
Die Internationale Gemeinschaft versucht seit Jahren, das Chaos zu beenden und den kongolesischen Zentralstaat zu stärken. Auch deutsche Einheiten waren im Rahmen einer EU-Mission 2006 an diesem Versuch beteiligt: Es ging um die militärische Absicherung der ersten freien Wahlen nach dem Sturz des langjährigen Diktators Mobutu Sese Seko. 500 deutsche Soldaten und knapp 300 Zivilisten wurden im Rahmen dieser Mission in den Kongo entsandt. Doch der aufwändige Einsatz war völlig nutzlos, meint Denis Tull. Und womöglich hätten die Wahlen das Land sogar noch weiter destabilisiert:
"Wir haben im ganzen Land (…) eine Situation, in der die Regierung für sich reklamiert politisch legitimiert zu sein und damit auch einen politischen und wirtschaftlichen Monopolanspruch formuliert hat, überall die Opposition unterdrückt, Journalisten in Gefängnisse sperrt, die Justiz mit den Füßen tritt, sofern sie überhaupt noch vorhanden ist, und insofern sehe ich hier nicht, dass die so genannte Demokratisierung zu einer Festigung des Friedensprozesses beigetragen hat. (…) Dann gibt es das Problem, dass man glaubt, 42 ff, dass die relevanten politischen Gruppierungen vor Ort das Interesse der internationalen Gemeinschaft teilen, den Kongo zu stabilisieren, Reformen durchzuführen und das ist mit Sicherheit nicht der Fall."
Das liegt nicht zuletzt an den reichen Bodenschätzen im Kongo: Neben Gold sind auf dem Weltmarkt derzeit vor allem Zinnerz und Coltan gefragt – beides wird für die Produktion von Handys und Laptops gebraucht. Daneben gibt es Kupfer, Diamanten, Erdöl und etliches mehr. Durch deren Ausbeutung finanzieren alle bewaffneten Gruppen ihren Krieg. Auch wenn ursprünglich die Erosion des Staates unter Mobutu für den Ausbruch des Kongo-Krieges verantwortlich war - einmal entfesselt, entwickelte der Krieg seine eigene Logik: Er speist und finanziert sich selbst, weil Militär und Milizen den Reichtum des Landes hemmungslos plündern.
Masika Marsiane füllt ihre Ration in eine Plastikschüssel, die noch ganz neu aussieht: "Sie haben uns das so erklärt: Jeder Sack Reis wiegt 105 Kilo und ist für sieben Familien gedacht. Warum sollten wir also um unsere Ration streiten? Sie haben uns ja gesagt, dass ein Sack nicht nur für eine Familie ist."
"Sie", das sind die Mitarbeiter der kongolesischen Hilfsorganisation PAP. In friedlichen Zeiten kümmern sie sich um die Belange der gesellschaftlich benachteiligten Pygmäen, eines Volkes von Waldbewohnern im Kongo. Doch die Zeiten sind nicht friedlich - im Kongo ist Krieg und in diesen Zeiten hilft PAP nicht nur den Waldbewohnern, sondern auch anderen Menschen, die ums Überleben kämpfen.
Jackson Basikany: "In den letzten Tagen sind hier um die 4200 Familien angekommen. Sie sind vor den Angriffen radikaler Hutu-Kämpfer geflohen, die erst kürzlich wieder etliche Dörfer angegriffen haben. Allein diese neue Gewaltwelle hat ungefähr 70.000 Familien vertrieben – 70.000 Familien in einem Gebiet von nur 70 oder 100 Kilometern! Aber auch in einem viel größeren Umkreis ist die Gegend unsicher. Die Menschen trauen sich nicht mehr, ihre Felder zu bestellen, ihr Besitz wird geplündert, ihre Häuser werden verbrannt – die Lage ist katastrophal."
Jackson Basikany leitet die Hilfsorganisation, die gerade in dem Dorf Miobwe verteilt, was die Vertriebenen am Nötigsten zum Überleben brauchen: Reis und Bohnen, Wasserkanister, Tassen und Teller, Feldhacken, Wolldecken, Kleidung und andere Haushaltsgegenstände. Die Menschen sind mit leeren Händen hierher geflohen, weil der Ort an einer der Hauptverkehrsadern liegt und deshalb als relativ sicher gilt. Das Geld für die Hilfsgüter bekam PAP von der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe, die Vertriebene in Region durch mehrere Programme unterstützt.
Masika Marsiane, die jetzt mit Reis und Bohnen im Gras sitzt, ist im Januar mit ihren sieben Kindern aus ihrem Heimatdorf geflohen. Für den seit Jahren vertrauten Albtraum hat sie nur noch ein paar dürre Worte: "Das Dorf wurde angegriffen, die Hütten verbrannt und die Frauen vergewaltigt."
Die Täter seien diejenigen gewesen, "die sich im Busch verstecken", sagt Masika Marsiane. Sie meint damit eine radikale Hutu-Miliz mit dem Namen FDLR, "Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas". Die Stärke dieser Miliz wird auf 6.000 Kämpfer geschätzt. Schon der Name verrät: Der Krieg im Kongo hat viel mit dem Nachbarland Ruanda zu tun. Viele der radikalen Hutu-Kämpfer waren 1994 an dem Völkermord an der Tutsi-Minderheit im benachbarten Ruanda beteiligt. Rund 800.000 Menschen – Tutsi und gemäßigte Hutu – wurden damals binnen weniger Wochen ermordet. Anschließend flohen die Täter über die Grenze in den Kongo und halten sich dort bis heute verschanzt. Sie überfallen Dörfer, plündern, brandschatzen und morden grausam.
Jackson Basikany: "Vor zwei Tagen wurden nur 16 Kilometer entfernt von hier Dörfer abgebrannt und geplündert. Nur 16 Kilometer entfernt! Vor drei Tagen wurden mehr als 100 Häuser in Kanyabayonga in Brand gesetzt, die Bewohner vertrieben und ihr Besitz geplündert. Aus Sicht der Politiker entwickelt sich vielleicht alles prächtig. Aber unsere Sicht ist anders. Wir sind hier vor Ort sind, wir helfen den Vertriebenen und leben mit ihnen. Wir wissen: Die Lage ist katastrophal. Wir sind ja noch nicht einmal hier in Sicherheit! Aber obwohl es gefährlich ist, müssen wir an der Seite der Vertriebenen bleiben und ihnen helfen."
5,4 Millionen Tote – das ist einer Untersuchung zufolge die vorläufige Bilanz des Kongo-Krieges, der 1996 begann. Und die Zahl der Toten steigt täglich: Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sterben im Osten des Kongo jeden Tag 1.200 Menschen an den Folgen des Krieges. Viele der Toten sind Frauen, die den Folgen brutalster Vergewaltigungen erliegen. Nach Schätzungen von Fachleuten wurden seit Beginn des Krieges 500.000 Frauen vergewaltigt. Viele sterben unmittelbar an den ihnen dadurch zugefügten Verletzungen, andere später an Aids und anderen Geschlechtskrankheiten. Etliche Überlebende sind infolge der Verletzungen unfruchtbar. Die nationale kongolesische Armee ist nur für einen Teil dieser und anderer Kriegsverbrechen verantwortlich – doch ihre Mittäterschaft macht die Bevölkerung besonders hilflos. Denn wenn nicht einmal die Armee die Zivilbevölkerung verteidigt, verlieren die Menschen jede Aussicht auf Schutz.
Das Verhalten der kongolesischen Truppen ist Symptom für den Zerfall des kongolesischen Staates. Denis Tull von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin forscht seit Jahren über den Kongo:
"Manche bezeichnen das als Schattenstaat, d.h. also: ein System, in dem die bürokratischen Strukturen nicht tonangebend sind, sondern Netzwerke privater Beziehungen die größte Rolle spielen, die die Inhaber staatlicher Ämter mit Interessengruppen, mit Klientelgruppen verbinden, und wenn dieses System zu weit getrieben wird, wenn zu viele Ressourcen von diesen Eliten verschlungen werden, ohne wieder in die Gesellschaft zurückzufließen, dann stellen diese Gruppen in der Gesellschaft ihre Loyalität ein."
Bis 1997 wurde die Demokratische Republik Kongo, damals Zaire, von dem langjährigen Diktator Mobutu Sese Seko regiert. Mobutu hatte nur eine Staatsraison: Den Erhalt der eigenen Macht. Statt mögliche Gegner zu bekämpfen, kaufte er sie – und verschwendete dafür den Reichtum des Landes. Die Folge: Für die eigentlichen Aufgaben des Staates war kein Geld da. Schon unter Mobutu gab es so gut wie keine öffentlichen Dienstleistungen mehr.
Alois Tegera ist Direktor des POLE-Instituts, eines renommierten Think-Tanks in der ostkongolesischen Stadt Goma:
"Schon sehr lange gibt es hier anstelle des Staates ein Vakuum. Trotzdem hat die ganze Welt jahrelang geglaubt, sie hätte es noch immer mit einem Staat zu tun. Tatsächlich aber ist dessen Abwesenheit zu einem ernsten Problem geworden. Dem Staat ist es nie gelungen, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu vermitteln. Wenn aber ein Staat diesen Interessenausgleich nicht leistet, verliert er seine Existenzberechtigung. Die unweigerliche Folge ist das absolute Chaos – und genau das haben wir hier im Kongo."
Von den Folgen kann auch der Bauer Siril Kambale erzählen. Es war eine Nacht im April, im Dorf Bulotua, einer der zahlreichen betroffenen Orte in der Provinz Nord-Kivu. Siril Kambale und seine Frau lagen mit ihren sechs Kindern in einem Kaffeefeld, geduckt und mucksmäuschenstill. Es war abends gegen neun Uhr, die Dunkelheit der Tropen lag schon seit einigen Stunden über dem Dorf. Kambale war gerade auf dem Weg ins Bett, als er sah, dass die Hütte seines Nachbarn lichterloh brannte. Voller Panik weckte er und seine Frau die Kinder und floh mit ihnen in den nächstliegenden Acker. Da lagen sie dann und spähten vorsichtig über den Feldrain. Sogar die Kinder waren ganz still, selbst die Jüngsten; Kambale hatte ihnen nicht viel erklären müssen, sie spürten die Gefahr, die in der Luft lag. Neben der brennenden Hütte der Nachbarn stand eine Gruppe von Soldaten.
Siril Kambale: "Dann sah ich ein paar Soldaten auf mein Grundstück zulaufen. Einer von ihnen gab einen Schuss ab und rief seinen Kollegen zu, er habe auf dem Grundstück meiner Nachbarn zwei Zivilisten und einen Soldaten gesehen. Seine Kollegen liefen zu ihm, dabei erwähnten sie den Namen Kambale. Dann gingen sie die Böschung hoch zur Straße. Zu der Zeit brannte mein Haus noch nicht. Von meinem Versteck aus sah ich, wie sie kurz später mit ihrem Kameraden zurückkamen und zu dem brennenden Haus meines Nachbarn gingen. Meine Hütte brannte immer noch nicht."
Allmählich wurden die Kinder unruhig und Kambale bekam Panik. Trotzdem schaffte er es, auch die Kleinsten noch einmal ruhig zu kriegen. Er spähte wieder hoch und sah, wie sich einer der Soldaten aus der Gruppe der Militärs am Nachbarhaus löste und zu seiner Hütte ging.
"Ich konnte sehen, wie dieser Mann die erste, kleinere Hütte auf meinem Grundstück anzündete – ich hatte zwei Hütten auf meiner Parzelle. Dann hat er sich gebückt, etwas von dem brennenden Material aufgehoben und es auf meine größere Wohnhütte geworfen. Der Mann war bewaffnet. Wenn er lief, hörte ich, wie sein Gewehr mit einem metallischen Scheppern auf seinen Rücken schlug – ein ganz typisches Geräusch. In unserem Versteck lag auch die Ehefrau des Schuldirektors, die hat das auch gesehen und gehört. Nachdem der Soldat meine beiden Hütten angezündet hatte, ging er zu der Gruppe der anderen Militärs zurück."
Michel Tshonge Kikere hat Fälle wie diesen aufgeschrieben: Jede Hütte, die in Bulotua abgebrannt ist, mit Datum und Besitzer vermerkt. Es ist seine Pflicht, das zu tun: Er ist der Mwami des Dorfes, das traditionelle Oberhaupt. Er hat ein dickes Buch mitgebracht, in dem er mit Kugelschreiber säuberlich jeden einzelnen Vorfall notiert hat. Dazwischen hat er mit Bleistift und Lineal feine Linien gezogen. Leider hat der Mwami an diesem Morgen seine Lesebrille vergessen, aber das Wesentliche hat er ohnehin im Kopf: An vier Tagen hintereinander haben hier in jüngster Zeit die Hütten gebrannt. Und wie die Dorfbewohner dem Mwami erzählten, waren unter den Tätern häufig Soldaten der Regierung.
Michel Tshonge Kikere: "Wir verstehen nicht, warum sie manche Hütten auswählen und andere verschonen. Seit Anfang des Jahres ist die hier stationierte Brigade vor Ort. In ihren Reihen gibt es offenbar viele Konflikte. Sie scheinen sich über das militärische Vorgehen nicht einig zu sein. Vielleicht gibt es noch andere Probleme, zum Beispiel zwischen dem Kommandanten und seinem Stellvertreter. Es handelt sich um eine gemischte Einheit, sie besteht aus Regierungssoldaten und ehemaligen Milizionären. Wir haben den Eindruck, dass diejenigen, die Hütten in Brand setzen wollen, einfach mit auf Patrouille gehen und sich unterwegs von der Einheit lösen. Seit wir diese Brigade hier haben, fangen die Hütten oft gerade dann an zu brennen, wenn die Militärs zehn oder 15 oder 30 Meter entfernt sind. Aber dann sind sie häufig als erste vor Ort und helfen beim Löschen. Sobald die Bewohner geflohen sind, fangen sie an zu plündern."
Der Dorfchef kann nicht sagen, ob die Bevölkerung mehr unter den radikalen Hutu-Milizionären leidet – oder unter den Angehörigen der eigenen Armee.
Michel Tshonge Kikere: "Sie sind alle gleich. Wir haben ja nicht zum ersten Mal mit der Armee Probleme, und die Soldaten setzen auch nicht zum ersten Mal unsere Häuser in Brand. Im letzten Dezember hat die Armee hier in der Gegend systematisch geplündert. Kongolesische Regierungssoldaten! Bestimmt zehn Brigaden waren beteiligt. Sicher, die Soldaten kriegen keinen Sold, aber damit kann man dieses allgemeine und systematische Plündern nicht erklären. Nein, das scheint regelrecht organisiert zu werden – es ist ein Kriegsverbrechen! Und es hat dazu geführt, dass die Menschen, für die ich verantwortlich bin, inzwischen völlig verarmt sind. Man hat ihnen alles genommen. Alles! Restlos! Einige haben versucht, mit ein paar Besitztümern in den Wald zu entkommen – aber selbst da wurden sie aufgespürt und ausgeplündert. Sogar ihre Ernten wurden gestohlen. Selbst in diesem Moment, in dem wir hier sitzen und uns unterhalten, wird im Busch geplündert und gemordet. Die Täter sind Regierungssoldaten und Milizionäre."
Colonel Bahumisa Chuma: "Wer so etwas sagt, versucht, die Moral unser Truppen zu untergraben. Der will erreichen, dass die Soldaten beim nächsten Brand keine Hilfe mehr leisten. Natürlich ist das alles eine Lüge: Der Auftrag der Armee ist der Schutz der Bevölkerung und ihres Besitzes – und nicht dazu da, die Hütten anzuzünden!"
Der Kommandant des Sektors, Oberst Bahumisa Chuma, gibt außerdem zu verstehen, dass auf die "Unterwanderung der Moral der Truppen" hohe Gefängnisstrafen stehen. Und dass diese Gesetze auch für ausländische Journalisten gelten, die vielleicht die falschen Fragen stellen. Die Vereinigung von Regierungsarmee und Rebellen sei im Übrigen sehr erfolgreich gewesen, meint der Kommandant. Im Frühjahr unterzeichnete die kongolesische Regierung einen Friedensvertrag mit dem "Nationalkongress zur Vereinigung des Volkes", kurz CNDP, des inzwischen verhafteten Generals Laurent Nkunda. Nkunda war ursprünglich bei der kongolesischen Armee, gegen die er dann rebellierte, bevor er seine eigene Miliz gründete. Menschenrechtsgruppen werfen auch dieser Miliz zahlreiche Kriegsverbrechen vor. Im Januar wurde Nkunda vom ruandischen Militär verhaftet, seine Truppen in die kongolesische Armee integriert - mit verheerenden Folgen.
Denis Tull: "Die Sicherheitslage im Osten, vor allem in den Regionen Nord- und Süd-Kivu ist heute vermutlich noch schlimmer als während des offiziellen Krieges, der von 98 bis 2002 gedauert hat."
Noch einmal Denis Tull von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin:
"Die kongolesische Armee, ungeachtet mal ihrer geringen militärischen Fähigkeiten, ist einfach an Sammelsurium an Gruppen, die heutzutage wie Wegelagerer daher kommen, die von der Regierung nicht unterstützt werden, es gibt keine logistische Unterstützung, es gibt keine medizinische Versorgung – diese Truppen leben auf dem Rücken der Bevölkerung, die Zahl der Vergewaltigungen, der sexuellen Gewalt, hat sich noch mal deutlich erhöht, und zwischen all diesen Fronten befindet sich dann noch die Friedensmission der Vereinten Nationen, die aufgrund ihrer geringen Truppenstärke, aber auch mangels Helikoptern nicht dazu in der Lage ist, einen zentralen Pfeiler ihres Mandats wahrzunehmen, nämlich den Schutz der Zivilbevölkerung zu leisten."
Die Internationale Gemeinschaft versucht seit Jahren, das Chaos zu beenden und den kongolesischen Zentralstaat zu stärken. Auch deutsche Einheiten waren im Rahmen einer EU-Mission 2006 an diesem Versuch beteiligt: Es ging um die militärische Absicherung der ersten freien Wahlen nach dem Sturz des langjährigen Diktators Mobutu Sese Seko. 500 deutsche Soldaten und knapp 300 Zivilisten wurden im Rahmen dieser Mission in den Kongo entsandt. Doch der aufwändige Einsatz war völlig nutzlos, meint Denis Tull. Und womöglich hätten die Wahlen das Land sogar noch weiter destabilisiert:
"Wir haben im ganzen Land (…) eine Situation, in der die Regierung für sich reklamiert politisch legitimiert zu sein und damit auch einen politischen und wirtschaftlichen Monopolanspruch formuliert hat, überall die Opposition unterdrückt, Journalisten in Gefängnisse sperrt, die Justiz mit den Füßen tritt, sofern sie überhaupt noch vorhanden ist, und insofern sehe ich hier nicht, dass die so genannte Demokratisierung zu einer Festigung des Friedensprozesses beigetragen hat. (…) Dann gibt es das Problem, dass man glaubt, 42 ff, dass die relevanten politischen Gruppierungen vor Ort das Interesse der internationalen Gemeinschaft teilen, den Kongo zu stabilisieren, Reformen durchzuführen und das ist mit Sicherheit nicht der Fall."
Das liegt nicht zuletzt an den reichen Bodenschätzen im Kongo: Neben Gold sind auf dem Weltmarkt derzeit vor allem Zinnerz und Coltan gefragt – beides wird für die Produktion von Handys und Laptops gebraucht. Daneben gibt es Kupfer, Diamanten, Erdöl und etliches mehr. Durch deren Ausbeutung finanzieren alle bewaffneten Gruppen ihren Krieg. Auch wenn ursprünglich die Erosion des Staates unter Mobutu für den Ausbruch des Kongo-Krieges verantwortlich war - einmal entfesselt, entwickelte der Krieg seine eigene Logik: Er speist und finanziert sich selbst, weil Militär und Milizen den Reichtum des Landes hemmungslos plündern.