Allison Russell: "Outside Child"

Ein Album, das Missbrauchsopfern Mut machen soll

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Porträt der Musikerin Allison Russell im Profil.
Allison Russell hat ihr Solodebüt veröffentlicht. Die markantesten Instrumente auf "Outside Child" sind das Banjo und die Klarinette. © Marc Baptiste
Von Kerstin Poppendieck · 19.05.2021
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Allison Russell ist Gründungsmitglied der Frauen-Supergroup Our Native Daughters. Nun hat die Kanadierin ihr Solodebüt veröffentlicht, auf dem sie den Missbrauch durch ihren Adoptivvater thematisiert: sehr berührend und schwer auszuhalten.
"Ich wurde vor allem von meinem Adoptivvater missbraucht. Das ging ungefähr zehn Jahre. Darüber zu reden, ist Teil meiner Heilung. Ich denke, wir müssen anfangen, darüber zu sprechen, wenn wir etwas ändern wollen", sagt Allison Russell.

Selbstbewusst, charmant und jung

Wenn man die Kanadierin im Videointerview erlebt, dann ist es schwer, sich vorzustellen, welches Trauma sie in ihrer Kindheit durchlebt hat. Da sitzt eine selbstbewusste, charmante junge Frau und erzählt davon, wie sie als Kind von ihrem Stiefvater jahrelang sexuell missbraucht wurde, wie sie dann als Teenager von zu Hause weglief und wie sie obdachlos auf den Straßen von Montreal lebte.
Diese Erlebnisse thematisiert Allison Russell auf ihrem Debütalbum "Outside Child" – und stellt sich ihrem Trauma erneut. In dem Lied "4th Day Prayer" singt sie: "Vater benutzte mich wie eine Ehefrau, Mutter hat die Augen verschlossen. Er raubte mir meinen Körper, Geist und Stolz. Das tat er jede Nacht."
Heute lebt Allison Russell in Nashville, ist Mutter einer 7-jährigen Tochter und lebt glücklich mit dem Musiker JT Nero zusammen. Er ist einer von vielen Gastmusikern, die Russell für ihr Solodebüt eingeladen hat.

Kathartische Klarinette

Als ihre selbstgewählte Familie bezeichnet Russel MusikerInnen wie Yola, Ruth Moody und Erin Rae, die auf "Outside Child" ebenfalls zu hören sind.
Elf Songs zwischen Blues und Americana mit der Stimme von Allison Russel, die mal laut und beeindruckend kraftvoll klingt und mal berührend sanft und verletzlich.
Das markanteste Instrument auf diesem Album, neben dem Banjo, ist die Klarinette. Ein oft verwendetes Instrument in der amerikanischen Bluesmusik, was keine Überraschung ist, denn der dunkle, expressive Klang passt ganz wunderbar zu der meist düsteren Stimmung der Blues-Songs.
Auch auf Allison Russells Album intensiviert die Klarinette die starke Wirkung der Songs. "Für mich ist die Klarinette eine Erweiterung der Stimme. Ihr Klang hat etwas sehr Kathartisches. Die Art, wie die Töne schwingen, fühlt sich heilend an. Wenn ich mich mit Freunden zum jammen treffe, nehme ich immer meine Klarinette mit. Wenn ich sie spiele, hilft es mir, meinen Geist zu erweitern. Und es beruhigt mich."

Inzwischen kann sie lieben und vertrauen

Allison Russel ist eine bewundernswerte Frau, die ihr Talent als Musikerin nutzt, um den Fokus auf das Thema Missbrauch an Minderjährigen zu richten. Ein Thema, das oftmals noch ein Tabu ist.
Russell möchte anderen Betroffenen Mut machen, indem sie ihre eigene Geschichte erzählt. Ihr Solodebüt "Outside Child" ist ein Album voller Gänsehautmomente. Vor allem die Kombination aus ihren traurigen und herzzerreißenden Texten und die unglaublich emotionale Art, diese Texte zu singen, machen es zu einem der bemerkenswertesten Americana-Alben dieses Jahres – das kann man bereits jetzt sagen.
Allison Russell hat es geschafft, den Horror ihrer Kindheit hinter sich zu lassen. Und auch ihr Album gibt Hoffnung, wenn sie am Ende singt, dass sie heute lieben und vertrauen kann. "Noch nie in meinem Leben war ich so glücklich und habe mich so sicher und geliebt gefühlt wie jetzt", sagt sie.
Das sei ein guter Ausgangspunkt gewesen, diese Lieder zu schreiben. "Es macht mich so froh, meiner Tochter ein Leben bieten zu können, das ich nie hatte. Ich hoffe sehr, dass vor allem junge Menschen, die gerade ähnliches erleben wie ich damals, meine Lieder hören, und ich ihnen damit helfe. Wir sind nicht die Summe unserer Narben. Wir sind viel mehr als das."
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