Allgemeine Wehrpflicht - ein Auslaufmodell?

Von Konrad Adam |
Seit es sie gibt, seit mindestens 200 Jahren also, erfüllt die allgemeine Wehrpflicht neben ihren militärischen Zwecken auch einen volkspädagogischen Auftrag. Nach den Vorstellungen ihrer Erfinder, der französischen Revolutionäre, sollen die Wehrpflichtigen nicht nur die Grenzen des Vaterlandes sichern, nicht nur die Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit in aller Welt verbreiten, sondern auch beim Dienst an der Waffe zu verlässlichen und belastbaren Mitgliedern der Gesellschaft ausgebildet werden.
In Deutschland ist aus diesem Auftrag die Rede von der Armee als Schule der Nation entstanden, eine Formel, die erst von Willy Brandt mit der Begründung abgetan wurde, die Schule der Nation sei nicht die Bundeswehr, sondern die Schule.

Spätestens seit der damalige Verteidigungsminister Peter Struck die Absicht, Bundeswehrangehörige als Aufbauhelfer nach Afghanistan zu schicken, mit der Bemerkung rechtfertigte, die Freiheit des Westens werde auch am Hindukusch verteidigt, ist dieser volkspädagogische Auftrag ins Zwielicht geraten. Um den Rekruten Gehorsam, Dienstbereitschaft und andere soldatische Tugenden abzuverlangen, muss man sie ja nicht ein paar tausend Kilometer weit nach Asien verfrachten; das ließe sich genauso gut, wahrscheinlich sogar noch etwas besser in Deutschland selbst besorgen. Tatsächlich waren und sind es ja auch nicht Dienstverpflichtete, die nach Afghanistan reisen, sondern Berufssoldaten und Freiwillige. Die Grenzen des Verteidigungsauftrages bis an die Grenzen Chinas auszudehnen, wäre über den legitimen Auftrag einer Wehrpflichtigenarmee denn doch wohl allzu weit hinausgegangen.

So erklärt sich, wie die Frage nach dem deutschen Engagement in Afghanistan zum Auslöser einer Debatte werden konnte, die bisher, zumindest von den beiden großen Volksparteien, ängstlich vermieden worden ist, der Debatte um die Zulässigkeit und Angemessenheit der allgemeinen Wehrpflicht. Die Verbindung des einen Themas mit dem anderen ist zwar nicht zufällig, sollte aber nicht überstrapaziert werden. Denn die Einwände und Vorbehalte gegen die Dienstpflicht sind älter und vielfältiger als der Meinungsstreit um den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sie lassen sich auch anders, nämlich besser begründen.

Stärker als andere Teilbereiche des modernen Lebens hat sich das Militärwesen unter dem Einfluss technischer Neurungen verändert. Planung und Durchführung von Kampfmaßnahmen sind in einem großen und stets wachsenden Umfang zur Angelegenheit von Spezialisten geworden. Nicht nur die Einsätze in besonderem Auftrag, die an Zahl und Umfangständig zunehmen, sondern auch der militärische Alltagsbetrieb geht über den Horizont des gewöhnlichen, Grundwehrdienst leistenden Rekruten immer weiter hinaus. Der Fachmann triumphiert auch hier, und Wehrdienstleistende sind in aller Regel eben keine Fachleute, können das innerhalb der kurzen Zeit, die sie beim Bund sind, auch nicht werden.

Selbst dort, wo an der allgemeinen Wehrpflicht, aus welchen Gründen auch immer, festgehalten wird, spielt der militärische Fachmann eine immer größere, der einfache Rekrut eine immer geringere Rolle. Darunter leidet zwangsläufig ein anderer Aspekt, die Wehrgerechtigkeit, und das verschärft das Dilemma, vor dem die Anhänger der allgemeinen Wehrpflicht stehen, nicht nur in Deutschland. Die Frage, wie sich der Auftrag zur effektiven Landesverteidigung mit dem Prinzip der Dienstpflicht für jedermann in Einklang bringen lässt, ist immer schwerer zu beantworten. Bisher ist dieser Graben, der sich da auftut, immer nur mit Worten zugeschüttet worden. Auf Dauer wird das allerdings nicht reichen.


Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", arbeitete dann für die "Welt", inzwischen wieder für die "FAZ". Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern", "Die Republik dankt ab" sowie "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen". Zuletzt erschien: "Die alten Griechen".