Alles, was Recht ist
Die Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland niederzuschreiben, ist eine Lebensaufgabe. Der Frankfurter Rechtshistoriker Michael Stolleis hat sie vollbracht. Mit dem vierten und letzten Band steht fest: Kaum eine Wissenschaftsdisziplin ist so nahe dran an der politischen Macht wie diese.
Wissenschaftsgeschichte hat es oft schwer, ein größeres Publikum zu finden: Wann welche Idee im wissenschaftlichen Diskurs an Gewicht gewann oder verlor, das interessiert im Regelfall kaum jemand – außer die Forscherinnen und Forschern, die selbst an diesem Diskurs beteiligt sind. Im Fall des öffentlichen Rechts, dessen Geschichtsschreibung das Lebenswerk des Frankfurter Rechtshistorikers Michael Stolleis ist, ist das anders. Kaum eine Wissenschaftsdisziplin ist so nah dran an der politischen Macht wie diese.
Das gilt nicht nur personell (zwei der elf Bundespräsidenten, Karl Carstens und Roman Herzog, waren im Zivilberuf Professoren des öffentlichen Rechts, von unzähligen Ministern, Abgeordneten und natürlich Verfassungsrichtern ganz zu schweigen). Auch inhaltlich hat die Wissenschaft vom öffentlichen Recht nicht selten buchstäblich an unserer Verfassungsordnung mitgeschrieben. Denn im Unterschied zum Privatrecht werden im öffentlichen Recht alle Angelegenheiten des Gemeinwohls geregelt, an denen Bund, Länder und Kommunen beteiligt sind. Das macht den jüngst erschienenen vierten und letzten Band des monumentalen Werks von Stolleis, der die Epoche von 1945 bis 1990 behandelt, zu einer besonders lohnenden Lektüre: Dieses Kapitel Wissenschaftsgeschichte ist gleichzeitig Teil – oder Spiegel – unserer Verfassungsgeschichte, ja der politischen Zeitgeschichte der Bundesrepublik insgesamt.
1945 bis 1990: Das ist der Zeitraum, in dem zwei deutsche Staaten existierten. Auch das öffentliche Recht in der DDR untersucht Stolleis, in gesonderten Kapiteln und mit begrenztem Ertrag: So wie die Verfassung und das Recht insgesamt erreichte das öffentliche Recht in der DDR nie das Gewicht, das es im westlichen Teil Deutschlands erlangte.
Für die Bundesrepublik galt: Vom Kalten Krieg (KPD-Verbot, Integration der NS-Beamten) über die 60er- und 70er-Jahre (Notstandsverfassung, Ostverträge, RAF-Terror) bis zur europäischen Einigung und zur Wiedervereinigung – all dies waren Themen, die Völker-, Verfassungs- und Verwaltungsjuristen wissenschaftlich durchdrangen und diskutierten. Denn politische und juristische Debatten sind – gerade in der Bundesrepublik nach 1949 – eng miteinander verknüpft. Stolleis zeichnet die Debatten der Juristen minuziös nach und versäumt auch nicht, die Leerstellen und blinden Flecken dieser so eigentümlich konservativen Forscherzunft herauszuarbeiten – ihre Ignoranz gegenüber dem Verfassungsgebot der Gleichberechtigung der Geschlechter beispielsweise.
Stolleis gehört selbst seit fast vier Jahrzehnten der Staatsrechtslehrervereinigung an; er ist Teil der Geschichte, die er schreibt. Dass sein Buch nicht nur die distanzlose Chronik eines Zeitzeugen, sondern der krönende Abschluss eines großen historiografischen Werks ist, hängt mit dem Zeitpunkt seines Erscheinens zusammen: Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist der Nationalstaat kein Gegenüber der Gesellschaft mehr, nationales und übernationales, staatlich und privat gesetztes Recht (zum Beispiel Dopingregeln der Sportverbände) existieren nebeneinander, und was öffentliches und was privates Recht ist, ist immer schwerer zu sagen – und auch immer weniger relevant.
Die Geschichte der Wissenschaft vom öffentlichen Recht in Deutschland, die aus der Krise der Reichsverfassung in den Konfessionskriegen des 16. Jahrhunderts entstand und unter der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts seine größte Blüte erlebte, neigt sich womöglich ihrem Ende zu, wie Stolleis am Ende seines Buchs illusionslos und nicht ohne Wehmut beschreibt. Sein vierbändiges Werk findet seinen Abschluss im gleichen Moment wie sein Gegenstand. Insofern kommt die Historisierung der Wissenschaft vom öffentlichen Recht, die Stolleis vornimmt, früh, aber zu einem passenden Zeitpunkt.
Besprochen von Maximilian Steinbeis
Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Vierter Band, 1945-1990.
C. H. Beck, München 2012
720 Seiten, 68 Euro
Das gilt nicht nur personell (zwei der elf Bundespräsidenten, Karl Carstens und Roman Herzog, waren im Zivilberuf Professoren des öffentlichen Rechts, von unzähligen Ministern, Abgeordneten und natürlich Verfassungsrichtern ganz zu schweigen). Auch inhaltlich hat die Wissenschaft vom öffentlichen Recht nicht selten buchstäblich an unserer Verfassungsordnung mitgeschrieben. Denn im Unterschied zum Privatrecht werden im öffentlichen Recht alle Angelegenheiten des Gemeinwohls geregelt, an denen Bund, Länder und Kommunen beteiligt sind. Das macht den jüngst erschienenen vierten und letzten Band des monumentalen Werks von Stolleis, der die Epoche von 1945 bis 1990 behandelt, zu einer besonders lohnenden Lektüre: Dieses Kapitel Wissenschaftsgeschichte ist gleichzeitig Teil – oder Spiegel – unserer Verfassungsgeschichte, ja der politischen Zeitgeschichte der Bundesrepublik insgesamt.
1945 bis 1990: Das ist der Zeitraum, in dem zwei deutsche Staaten existierten. Auch das öffentliche Recht in der DDR untersucht Stolleis, in gesonderten Kapiteln und mit begrenztem Ertrag: So wie die Verfassung und das Recht insgesamt erreichte das öffentliche Recht in der DDR nie das Gewicht, das es im westlichen Teil Deutschlands erlangte.
Für die Bundesrepublik galt: Vom Kalten Krieg (KPD-Verbot, Integration der NS-Beamten) über die 60er- und 70er-Jahre (Notstandsverfassung, Ostverträge, RAF-Terror) bis zur europäischen Einigung und zur Wiedervereinigung – all dies waren Themen, die Völker-, Verfassungs- und Verwaltungsjuristen wissenschaftlich durchdrangen und diskutierten. Denn politische und juristische Debatten sind – gerade in der Bundesrepublik nach 1949 – eng miteinander verknüpft. Stolleis zeichnet die Debatten der Juristen minuziös nach und versäumt auch nicht, die Leerstellen und blinden Flecken dieser so eigentümlich konservativen Forscherzunft herauszuarbeiten – ihre Ignoranz gegenüber dem Verfassungsgebot der Gleichberechtigung der Geschlechter beispielsweise.
Stolleis gehört selbst seit fast vier Jahrzehnten der Staatsrechtslehrervereinigung an; er ist Teil der Geschichte, die er schreibt. Dass sein Buch nicht nur die distanzlose Chronik eines Zeitzeugen, sondern der krönende Abschluss eines großen historiografischen Werks ist, hängt mit dem Zeitpunkt seines Erscheinens zusammen: Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist der Nationalstaat kein Gegenüber der Gesellschaft mehr, nationales und übernationales, staatlich und privat gesetztes Recht (zum Beispiel Dopingregeln der Sportverbände) existieren nebeneinander, und was öffentliches und was privates Recht ist, ist immer schwerer zu sagen – und auch immer weniger relevant.
Die Geschichte der Wissenschaft vom öffentlichen Recht in Deutschland, die aus der Krise der Reichsverfassung in den Konfessionskriegen des 16. Jahrhunderts entstand und unter der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts seine größte Blüte erlebte, neigt sich womöglich ihrem Ende zu, wie Stolleis am Ende seines Buchs illusionslos und nicht ohne Wehmut beschreibt. Sein vierbändiges Werk findet seinen Abschluss im gleichen Moment wie sein Gegenstand. Insofern kommt die Historisierung der Wissenschaft vom öffentlichen Recht, die Stolleis vornimmt, früh, aber zu einem passenden Zeitpunkt.
Besprochen von Maximilian Steinbeis
Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Vierter Band, 1945-1990.
C. H. Beck, München 2012
720 Seiten, 68 Euro