"Alles war schon früher"

Von Bernhard Doppler |
Im Rahmen des Programms der Kulturhauptstadt Stavanger 2008 wird eine ganze Insel theatralisch erschlossen. Bevor sie die Freilichtbühne erreichen, laufen die Zuschauer durch inszenierte Natur. Die Bühne wird mit der Uraufführung von Jon Fosses "Desse Auga" (Diese Augen) eröffnet. Sein Stück um ein Paar ist von der eindrucksvollen Fjordlandschaft dieser Gegend inspiriert.
Klassisches Theater, Oper und Konzert scheinen bisher zumindest im Programm der Kulturhauptstadt Stavanger 2008 nur ein Schattendasein zu fristen. Wert gelegt wird in der skandinavischen Ölmetropole – durchaus sehr anspruchsvoll - auf die regionale Kultur und ihre Tradition, auf Musik in der Domkirche und norwegische Blasorchester etwa. Architektonische Konzepte und Stadt-Installationen, die die Landschaft, vor allem die Nordsee, einbeziehen, stehen im Vordergrund.

Das gilt auch für die Aufführung des ansässigen Rogaland Theaters im Rahmen des Kulturstadtprogramms, bei der in aufwändiger Weise (Projektkosten 3.000.000 €) die Insel Lundsneset theatralisch erschlossen wird. Ehe man das eigentliche Ziel des Spektakels erreicht, die Uraufführung eines Stückes von Jon Fosse in einer eigens dafür errichten Freilichtbühne, wandern die Zuschauer zum Teil in dafür beim Eingang ausgegebener weißer Kleidung durch eine "Zone korrigierten Realismus", durch inszenierte Natur also: Mitten im Getreidefeld wird zum Beispiel ein Boot gerudert. Dann wieder ist ein Käfig mit einem einen Acker bestellenden Bauern zu sehen, ausgestellt wie im Zoo als Exemplar eines bedrohten Lebewesens. (Es ist die Spezies des "homo agriculturus", die 2025 in Norwegen ausgestorben sein wird. 75 Jahre zuvor machten die Bauern noch 20% der Bevölkerung aus.) Aber auch Fantastisches ist zu erleben, etwa wenn aus einem Wäldchen eine Figur mit Bärenkopf und Gewehr auftaucht und über die in einer Lichtung abgestellten Autos zu klettern versucht.

Auch Jon Fosses allegorisches, gemeinsam mit dem litauischen Regisseur Oskara Korsunova konzipiertes Schauspiel "Dessa Auga" ist von der eindrucksvollen Fjordlandschaft dieser Insel inspiriert. Die Figuren steigen zu Beginn, hinter sich spiegelnden Quadern hervorkommend, langsam aus dem Meer. Vor allem eine von ihnen, im schwarzen Mantel und langem weißen Bart, "Schatten" genannt, wiederholt oft den Satz: "Alles war schon immer". Vor den "Augen" der "ewigen" Landschaft verschwimmt nämlich die Einzelbiografie in Fosses Stück. Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart eines Paares vermischen und bedrohen sich. Es war vom Wunsch bestimmt, zu zweit allein sein zu wollen. "Alles war schon früher."

Der Wortschatz der Figuren ist wie immer bei Fosses Stücken auf ein Minimum, auf ein "Ja", ein "Nein", ein "Vielleicht Nein" reduziert, ein Kommunizieren im Fast-Schweigen also. Auch die die Aufhebung von Gegenwart und Vergangenheit, die Entpsychologisierung der Figuren, die Verdoppelung des Paares, die Spiegelung des alten im jungen ist auch sonst bei ihm üblich. Doch im Gegensatz zum Studiobühnen-Format, in dem Fosse sonst meist gespielt, wird in Oskara Korsunovas Freilichttheater-Inszenierung ein immenser Aufwand an Effekten geboten.

Ein großes Orchester mit Chor, darunter zwei Sänger, erhöht das Pathos des Geschehens ins Melodramatische, die Musik von Gintaras Sodeika setzt aber auch rhythmische Akzente für ein Ballett, das eine Mischung aus Tiergestalten – zu Beginn fast an "Cats" erinnernd – und Schatten-Lemuren darstellt. Das Ballett umringt das Paar bedrohlich, zieht sich aber auch immer wieder zurück, um sich unter Bäumen bei schwarzen marmorförmigen Quadern zu verpuppen. Die Figur des dämonischen "Schatten" – eine Art Meeresgott – ist Tänzer und Schauspieler gleichzeitig. Auch ein gespenstischer Kahn taucht aus den nächtlichen Meeresfluten auf und verbrennt dann in hohen Flammen - unter Musikbegleitung - spektakulär im Wasser.

Man könnte Fosses neues Stück in die Tradition von Strindbergs allegorischen Traumspielen stellen, jedenfalls ist mit "Diese Augen" sein leises Theater auf der Insel Lundsneset überraschend zum pathetischen publikumswirksamen Musical aufgedonnert.

Die Freilichtbühne in Lundsneset ist – zunächst – ausschließlich nur für dieses Event gebaut worden, dennoch versicherten einige Mitwirkende, dass "Diese Augen" besonders eindrucksvoll bei den Proben in den winzigen intimen Proberäumen des Rogaland Theaters zur Geltung gekommen wäre. Man sollte vielleicht tatsächlich den Versuch wagen, dieses Auftragswerk der Kulturhauptstadt 2008 auch außerhalb des spektakulären Rahmens von Lundsneset aufzuführen.