Alles Schrott

Von Steffen Lüddemann · 17.07.2007
Über tausend Sero-Annahmestellen gab es in der DDR. Ein nahezu flächendeckendes System zur Erfassung von Sekundärrohstoffen wie Glas, Schrott, Lumpen, Plastik, Reifen, Altpapier. Doch auch in der Bundesrepublik ist das Geschäft mit dem Abfall nicht erst seit dem Grünen Punkt lukrativ geworden.
Eine Werkhalle im Leipziger Süden, Kohlenstraße. Es ist kurz nach acht. Ein kalter, nebliger Morgen. Eben hat Udo eine blaue Plane an dem großen Holztor der Halle befestigt. Darauf stehen mit großen Buchstaben Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 8 bis 18 Uhr, Samstag 8 bis 12. Darunter eine Handynummer. Nichts weiter. Kein Name, kein Firmenlogo.

Udo ist ein untersetzter Mann mit blauen Augen und einem grauen Bart. Er trägt eine Pudelmütze. Udo ist 51. Gelernt hat er früher einmal Tischler. In den letzten fünfzehn Jahren war er alles Mögliche - Heizer, Hausmeister, Beifahrer... Seit zwei Monaten ist er hier beschäftigt. Seine Berufsbezeichnung? Er zuckt mit der Schulter, dann sagt er: "Rumpelmännchen." In der Werkhalle Kisten mit Schrott, Motorenblöcke, Reifen, ein Papiercontainer. Gerade ist ein Schwung 'Duden' gekommen. Fünfhundert Stück, hat Udo gezählt.

In einer Ecke ein Campingtisch, zwei Hocker drum herum, ein Sessel, aus dem die Federn unten herausgucken. Im Zentrum der Halle eine große Waage mit einem Aufkleber: 'Leipzig kommt!'

Mann: " Wir kommen am Nachmittag noch ä mal. "

Frau: " Eventuell. "

Mann: " Nu, off jeden fall! "

Ein Mann und eine Frau stehen in der Werkhalle. Der Mann ist um die Fünfzig, er trägt eine abgewetzte Wattejacke. Die Frau ist jünger, vierzig vielleicht, blond. Auch sie steckt in einer Wattejacke. Die beiden haben Dutzende Papierbündel und eine Kiste mit Schrott aus einem alten Lieferauto in die Halle geschleppt und auf die Waage gelegt.

Frau: " Ich geh jetzt mal rüber ins Büro. Und werde das Geld gleich holen. Bis gleich. "

Vor einigen Wochen sah ich auf der Straße vor mir einen Mann. Er zog einen Handwagen hinter sich her, voll beladen mit Zeitungen. Als er eine Bordsteinkante herunterfuhr, kippte der Wagen plötzlich um, die Papierbündel fielen auf die Straße. Ich half ihm, den Wagen wieder aufzurichten, der Mann sammelte die Papierbündel ein. Wohin er denn damit wolle, fragte ich ihn. "Zum Altstoffhandel", antwortete er. "Zum Altstoffhandel?

Schon oft hatte ich Leute gesehen mit Altpapier, mit Gläsern und Flaschen und Eisengestellen, die früh morgens durch die Straßen zogen. Es waren verstörende, aber doch auch vertraute Bilder, die irgendwie an alte Zeiten erinnerten. Gebeugte Frauen mit Flaschen und Gläsern in Einkaufsnetzen, Kinder mit Altpapier auf kleinen Wägelchen...
In jedem Stadtviertel gab es damals einen Altwarenhändler, eine sogenannte 'Sero-Annahmestelle'. An den Wänden hingen vergilbte Plakate, auf denen stand: "Aus alt wird neu - sammelt Altpapier!" oder "Flaschen und Gläser zurückgeben!"

"1.200 ‚Sero-Annahmestellen’ gab es in der DDR. Es war ein flächendeckendes System zur Erfassung von Sekundärrohstoffen, die aufgrund der begrenzten Rohstoffbasis in der DDR eine enorme Rolle spielten. Gesammelt wurde fast alles: Glas, Schrott, Lumpen, Plastik, Reifen, Altpapier. Mitte der achtziger Jahre basierte beispielsweise fast die Hälfte der Papierproduktion in der DDR auf Altpapier. Das war einzigartig. "

Mit der DDR aber verschwanden 1990 auch die ‚Sero-Annahmestellen’, diese Relikte der Mangelwirtschaft und der Rohstoffknappheit. In der Bundesrepublik war erst 1986 ein ‚Abfallgesetz’ verabschiedet worden, das 1991 von der ‚Verpackungsverordnung’ abgelöst wurde, dem ‚Grünen Punkt’. Die Verordnung verpflichtet Hersteller und Vertreiber, Verpackungen zurückzunehmen und wiederzuverwerten.

Marion Kürschner: " Und viele Leute, die heute kommen, die erinnern sich daran und sagen: Das ist ja Klasse, dass es das wieder gibt und da machen wir mit. Es ist für die Umwelt gut und es bringt ein paar Pfennje. Und so ist allen geholfen.""

Marion Kürschner ist die Chefin des Altwarenhandels. Sie ist eine schöne Frau, groß, blond, Ende Dreißig. Sie trägt Jeans und eine helle Bluse. Wir sitzen in einem Zimmer hinter ihrem Büro: ein Tisch, zwei Stühle, ein altes Sofa. Ein Kühlschrank brummt. Marion Kürschner stammt aus Leipzig. 1990 ist sie in den Westen gegangen und hat eine kleine Karriere bei einer Bank in Frankfurt am Main gemacht. Sie besaß ein Häuschen und ein silberfarbenes Auto. Aber sie hatte Heimweh. Dann lernte sie einen Mann kennen, der aus Erfurt stammt. Die beiden heirateten und beschlossen, in den Osten zurückzugehen, nach Leipzig.

Marion Kürschner: " Und dann waren wir hier und waren der Meinung, wir werden schon wieder 'ne Arbeit finden. Und dem war nicht so. Und dann ham wir uns vor knapp drei Jahrn entschlossen, so'ne Firma offzumachen. Und jetzt einen Laden aufmachen, wo die Leute noch was kriegen. Und das hat sich ja im Nachhinein herausgestellt, dass das nicht die schlechteste Idee war, die wir so hatten. "

Ronald Kürschner (auf Recyclinghof): " Das hat sich immer gesteigert, von Monat zu Monat. Na, wenn's Geld knapp wird... Die verdienen immer noch was Gutes dazu zu ihrem… Und das Geld liegt off der Straße. Und ich hab mein Gutes und die och, ge. Udo! "

" Hier! "

Ronald Kürschner: " Komm her! "

Ronald Kürschner ist der Chef. Er kommt gerade von einem 'Geschäftstermin' zurück.

Ronald Kürschner (auf Recyclinghof): " Hörstes Echo nicht? "

Kürschner trägt eine Militärhose, eine Lederjacke, Lederstiefel und auf dem Kopf eine Lederkappe mit einem Blechschild, auf dem 'Chess' steht.

Udo: " Ja, Chef! "

Sein Haar hat er zu einem Zopf zusammengebunden.

Ronald Kürschner (auf Recyclinghof): " Papier! Vollmachen! "

Udo: " Willste das alles reinmachen. Ist klar, ist gut. Ok, Chef. "

In die Halle treten zwei kleine schmächtige Männer. Der eine trägt eine gelbe, der andere eine grüne Windjacke. Die beiden ziehen ein kleines, rumpelndes Wägelchen hinter sich her, darauf vier Pappkisten, gefüllt mit Zeitungen. Auf den Pappkisten steht mit einer schwungvollen Schrift geschrieben: 'Rotkehlchen'.

Papiersammler 1: " Wir müssen's doch machen. Von dem bissel Geld kannste doch nicht leben, heutzutage. "

Papiersammler 2: " Ja. "

Papiersammler 1: " Wir müssen Papier sammeln. "

Papiersammler 2: " Wir müssen Papier sammeln, dass wir überhaupt zu was kommen. Ich habe zu Hause 'ne Tochter, die braucht was zu essen, naja... Aber das sieht schlecht aus mit Papier. Jeder zweite sammelt heutzutage. Wenn man seine Flecken kennt, dann geht's schon. Aber, naja gut... "

Papiersammler 1: " Müssen weiter. "

Die beiden kleinen Männer gehen wieder los. Der eine zieht das Wägelchen, der andere hält die leeren Pappkartons fest. Noch von weitem leuchten die Schriftzüge auf den Kartons - 'Rotkehlchen'.

Ronald Kürschner: " Angefangen hab ich eben och klein. Sonnabend, Sonntag gearbeit, Material aufgearbeitet hier, Buntmetall abgemacht, de Kabel, Kupfer, was so dran ist... Na, da ham mir's alleene gemacht. Aber das mache ich heute nicht mehr. "

Kürschners kaufen Altpapier, Metalle, Gußteile und Kabel. Der Handel läuft gut. Mittlerweile beschäftigen sie vier Mitarbeiter. Zwei von ihnen sind ständig mit einem Kleinlaster auf Tour - sie leeren die Papiercontainer, die Kürschners bei Privatkunden aufgestellt haben und holen aus Wohnungen alte Waschmaschinen ab und Elektrogeräte.
Das Altpapier bringen Kürschners nach Eilenburg, in eine Kleinstadt, 20 Kilometer von Leipzig entfernt. Dort produziert eine Firma Zeitungspapier aus 100% Altpapier. Das Metall verhökern sie an Zwischenhändler.

Ronald Kürschner: " Na, wird ja auch viel geklaut. Die klaun ja. Kabel, Kupfer, das ist ja heißbegehrt. "

Leipzig-Gohlis. Ein betonierter Wirtschaftshof: Müllfahrzeuge, Container, eine Schrottpresse. Am Rande des Geländes übereinandergestapelte Bürocontainer. Hier ist der Firmensitz der Abfall Logistik Leipzig GmbH, einem Tochterunternehmen der Leipziger Stadtreinigung. Andreas Schmidt ist der Geschäftsführer.

Andreas Schmidt: " Es ist schon 'ne gewisse Menge, die weggeht, die uns verlorengeht... Ich sag ma, schöner wär's, wenn wir die Mengen auch hätten, das is ganz klar, aber so ist nun mal der Markt. Und der Markt lässt eben auch zu, dass solche Unternehmen gegründet werden können, und man muss halt sehen, wer sich zum Schluss, über längere Zeit, durchsetzt. Muss ma sehn. Aufgrund des sehr harten Wettbewerbs in den letzten Jahren ist es schon sehr knapp für alle. "

Das DSD, das Duale System Deutschland, erhebt von jedem Hersteller und Vertreiber eine Gebühr für die Entsorgung der Verpackungen. Das DSD engagiert nun seinerseits Firmen, die die Entsorgung erledigen. Dafür erhalten diese Firmen eine Vergütung.

Andreas Schmidt: " Und es ist zum Teil auch so gekommen, dass dann, weil wir die Arbeit behalten wollen, die Mitarbeiter auch auf Lohn verzichten. Also wir müssen schon genau auf die Noten gucken! "

Der Partner des DSD in Leipzig ist die Abfall Logistik Leipzig GmbH. Vor zwei Jahren hat sie sich um die Wertstoff-Entsorgung beim DSD beworben und den Zuschlag erhalten.

Andreas Schmidt: " Unsere Arbeit ist jetzt die Einsammlung von Glas in der Stadt Leipzig, von Leichtverpackungen und von Papier, Pappen. "

‚Gelb’ für Verpackung, ‚Blau’ für Papier. Die Mülltrennung ist für viele eine Selbstverständlichkeit geworden. Doch die ‚gelben’ und ‚blauen Tonnen’ werden den Bürgern der Stadt nicht umsonst zur Verfügung gestellt. Über die Nebenkosten der Miete zahlt jeder Haushalt für die Entsorgung seiner Abfälle. Die Abfall-Logistik erfasst diese Abfälle und verkauft sie anschließend weiter an Recyclingfirmen.

"Die Abfall-Logistik hat das Monopol auf Sekundärrohstoffe in Leipzig. Kein anderer gewerblicher Entsorger darf in der Stadt Wertstoffe sammeln. Neunzig Mitarbeiter hat das Unternehmen und erwirtschaftet jährlich zehn Millionen Euro. Zehn Millionen Euro für alte Zeitungen, Gläser, Verpackungen und Schrott."

Es ist ein gutes Geschäft. Ein Geschäft aber mit strenger Kalkulation. Die Abfall Logistik muss Gewinn erwirtschaften, das heißt: eine genau vorgegebene Menge Altwaren in den Haushalten der Stadt einsammeln und der Wiederverwertung zuführen.

Andreas Schmidt: " Seitens DSD gibt es auch dort bestimmte Vorgaben, wo, ich meine, man kann alles hochrechen - es sind ja mit bestimmten Mengen zu rechnen, wenn extreme Unterschiede nach oben oder unten sind, hat zum einen das DSD die Möglichkeit, dort Einfluss zu nehmen, dass sie sagen: Passt auf, bei euch fällt nicht so viel an, dann bekommt ihr halt weniger Geld. Oder wenn mehr anfällt, dann kann man och von unsrer Seite aus ma sagen: Bei uns isses aber so, dass muss man sich dann halt ma ansehn. "

In den letzten Jahren sind die Weltmarktpreise für Schrott und Altmetalle in die Höhe geschossen. Der Grund ist die riesige Nachfrage, vor allem aus China. Die steigenden Weltmarktpreise haben Metall- und Schrottdiebstahl zu einem lukrativen Geschäft werden lassen. Und ein Ende des Booms ist nicht in Sicht.

Detlef Rahnefeld: " Wir ham von den Fallzahlen mal für 2006, da ham wir in Leipzig registriert, 687 Buntmetalldiebstähle. Die Schadenssummen belaufen sich im Einzelfall so in der Größenordnung von 5 bis 150.000 Euro im Einzelfall und ein Gesamtschaden, der beläuft sich etwa auf 700.000 Euro. Das hat damit zu tun, dass die Weltmarktpreise enorm gestiegen sind. Sie kriegen heute für 'ne Tonne Kupfer 5.000 Euro auf dem freien Markt, für eine Tonne Messing etwa 2.300 Euro und eine Tonne Mischschrott für 110 Euro. Also das sind dann schon Dimensionen, wo auch natürlich Geld zu verdienen ist. "

Polizeidirektion Leipzig. Ein heller Raum mit Blick in einen Gefängnishof. Hier ist der Arbeitsplatz von Detlef Rahnefeld. Rahnefeld ist Leiter des Dezernats 2 - Diebstahl.
Seit 2005 tauchen in den Kriminalstatistiken Vorgänge auf, die es früher kaum gegeben hatte – der Diebstahl von Sekundärrohstoffen. Zwei Anzeigen landen jeden Tag auf Rahnefelds Schreibtisch.

Detlef Rahnefeld: " Wir haben hier mit Tätern zu tun aus sozial schwachen, minderbemittelten Umfeld, aus Tätern, die sich von 14 Jahren bis zum Rentenalter erstrecken, Gelegenheitsdieben, Leuten, die das kurzzeitig nutzen, um ihr Geld aufzubessern, aber auch mit Tätern, die das organisiert betreiben, also organisiert bis zur Bande hin. Also wir haben Täter hier ermittelt und auf frischer Tat gestellt, die ganze Kabelbäume aus Häusern herausgerissen haben, die aus Rekohäusern - da hab ich'n konkretes Beispiel - insgesamt 2.000 Meter Kupferrohr wieder ausgebaut, also herausgerissen und zerteilt haben, und das nahezu bezugsfertige Haus demnach unbewohnbar gemacht haben. Wir haben och Täter, die sich besonders damit betätigen, Dachrinnen abzubauen, Schutzbleche an Fensterbrettern, die schrecken nicht davor zurück, in kirchlichen Einrichtungen dort Gegenstände zu entwenden, von denen sie meinen, dass sie Bunt- oder Edelmetalle sind. Das geht so weit, dass im Zoologischen Garten dort von Figuren die Hände abgedreht werden, weil se aus Bronze sind. Und nicht zu künstlerischen Zwecken oder zu Zwecken der Kunstliebhaberei, sondern letztlich zur Edelmetallgewinnung. "

Gullydeckel, Eisenbahnschienen und Oberleitungen aus Kupfer – geklaut wird alles, was aus Metall ist. Selbst Starkstromkabel an Windkraftanlagen wurden in 30 Meter Höhe abgetrennt. Der meiste Schrott wird nach Polen und Tschechien transportiert, dort sind die Ankaufspreise noch höher als in Deutschland.

Detlef Rahnefeld: " Wir haben regelrechte Kampagnen von osteuropäischen Tätern, Lettland, Litauer, Ukrainer, die einfallsartig mit Kleintransportern durch die Gegend fahren. Das sind oftmals Leute, die halten Ausschau nach möglichen Tatorten, die schleppen schwere Gegenstände aus Häusern raus. Und das sind Sachen, wo man sagt, nicht nur der moralische Schaden ist groß, sondern es geht einfach och darum, das wieder nachzurüsten, das ist überhaupt nicht möglich. Und insofern ist der Folgeschaden, der da materiell wie ideell bleibt, der ist nicht zu unterschätzen. "

"Die Aufklärungsquote ist gering. Sie liegt gerade einmal bei 25 Prozent. Für die Altwarenhändler wird der Ankauf von Metall eine Gratwanderung. Es ist unmöglich, die Herkunft aller angebotenen Gegenstände zu überprüfen."

Ronald Kürschner: " Ich hab viele Kunden auch auswärts, so Rechtsanwälte, da hab ich so kleine Container stehen, die machen’s Papier da rein und die Pappe, da fahre ich einmal die Woche hin… Papier ist ’ne Nebensache, am meisten mache ich Schrott und Buntmetall… Na, ich zahle gut und habe stabile Preise, nich ma hoch und ma runter, wenn’s ma fällt, da gehe ich nicht gleich mit, wegen 20, 30 Cent mache ich mich nich in die Hose. "

Mittlerweile gibt es in Leipzig ein gutes Dutzend Altwarenhändler, die ihrerseits an dem Geschäft mit den Sekundärrohstoffen partizipieren. Sie haben sich in den letzten Jahren ihre eigenen Strukturen aufgebaut.

Marion Kürschner: " Es hat sich also ergeben, dass die Leute klein angefangen haben, je mehr sich das in ihrem Bekanntenkreis rumgesprochen hat, desto mehr Leute ham mitgesammelt. Das hat sich dann auf die Hausbewohner ausgedehnt, auf die Nachbarn, es sind regelrechte Netzwerke entstanden, die den Leuten eben dazu verhelfen, dass sie eben täglich kommen und mit viel größeren Mengen. Insofern rentiert sich das dann für die Leute. Gerade im Frühjahr und im Herbst ist es ja so, dass viele Papiersammler sich schon mit den Reisebüros abgesprochen haben, wenn die Katalogwechsel haben, kommen dann tonnenweise Kataloge. Weil, die ham dann, ich weiß nicht wieviele Stapel, das wird ja komplett weggeschmissen, nu, und wir ham Kunden, die ham so drei Reisebüros und damit sind die erstma beschäftigt. Das war ja früher so, dass die das alles mit'm Rad hierher gekarrt haben, aber wir sind mittlerweile so, das wir och sagen: Wir holen euch das ab. Also sie müssen mitkommen, aber wir fahrn dann mit'm Auto und mit'm Hänger, damit se nich so oft nun hin- und herfahren müssen, weil das mitunter weite Wege sind, die die da zurücklegen. "

Etwa hundert Leute kommen täglich in den Altwarenhandel in der Kohlenstraße. Die meisten von ihnen sind Stammkunden. Es sind Rentner, Hartz IV-Empfänger und Kinder.

Ronald Kürschner: " Die sammeln daheim. Das hole ich manchmal ab. Da ham die in der Wohnung zwei Tonnen Papier liegen. Da schlafen die in der Stube, weil's Kinderzimmer voller Papier is. So zweimal im Monat muss ich dahin. Abends gehn die los mit'm Wagen, sind mehrere, und bei dem einen stapeln se's in der Hütte. Und da hole ich das ab. Da kriegen se ihr Geld und gut. Die Eltern ham nix, keine Arbeit. Die machen wenigstens noch was und klaun nicht. Muss keiner klaun, liegt genug rum off der Straße... "

Über Papiermengen und Geld wollen Kürschners nur ungern reden. Wieviel Papier in einen Container hineinpasst? - Zehn Tonnen. In anderthalb Tagen ist ein Container voll, hatte Udo, das ‚Rumpelmännchen’, am Morgen erzählt. Das wären pro Woche wenigstens drei Container. 30 Tonnen. Für das Kilo Altpapier zahlen Kürschners ihren Sammlern fünf Cent. Wieviel sie von ihrem Abnehmer bekommen, will ich wissen. Ronald Kürschner grinst: "Betriebsgeheimnis".

Ich erfahre später, üblich seien etwa 9 Cent für das Kilo Altpapier.
An jedem Kilo Altpapier verdienen Kürschners demnach 4 Cent. Bei 1.000 Kilogramm sind das 40 Euro, bei einer Tonne - 400 Euro. Binnen einer Woche kämen also 1.200 Euro zusammen, im Monat wären das insgesamt 4.800 Euro.
4.800 Euro Brutto. Nur für Altpapier.

Die beiden Papiersammler mit den 'Rotkehlchen'-Kartons sind schon wieder da, keine zwei Stunden sind vergangen. Ihre Kartons sind randvoll mit Zeitungen gefüllt. Ich frage, wo sie die gefunden haben. Die beiden drucksen herum. "Papiercontainer, Bayrischer Bahnhof", verraten sie schließlich.

"Eine Untersuchung oder Entnahme angefallener Abfälle ist untersagt. Abfälle gelten als in den Besitz der Stadt übergegangen, wenn sie zur Abholung bereitgestellt sind."
So steht es in der ‚Abfallwirtschaftssatzung’ der Stadt Leipzig. "Verstöße werden als Ordnungswidrigkeit verfolgt und können mit einer Geldbuße bis 50.000 Euro geahndet werden."

Papiersammler: " Normalerweise, wenn's des richtig nimmst, ist es ja verboten, es ist ja, es ist ja Diebstahl im Grunde genommen, von der Stadt... "

Ronald Kürschner: " Was? "

Papiersammler: " Das Papier... "

Ronald Kürschner: " Keen Diebstahl! "

Papiersammler: " Wat? "

Ronald Kürschner: " Gehört der Stadt nicht."

Papiersammler: " Das wär' Diebstahl, ham se gesagt. "
Ronald Kürschner: " Ach! "

Papiersammler: " Stand och letztens mal ganz groß in der Zeitung drinne, ganz großer Bericht... "

Ronald Kürschner: " Die Stadt hat Entsorgungscontainer stehen. Aber es gehört nicht der Stadt. Die denken, das gehört denen. Aber das gehört denen nicht. "

Papiersammler: " Das denken die. "

Ronald Kürschner: " Das Papier gehört den Leuten. Die kriegen keinen Pfennig dafür. "

Papiersammler: " Na ebend, na ebend. "

Ronald Kürschner: " Die müssen's nicht reinschmeißen. Und wenn ses in'n Hausflur stellen und ihr holts euch, isses kein Diebstahl! "

Papiersammler: " Es ist och keen Diebstahl. "

Ronald Kürschner: " enn die Container verschlossen sind und ihr macht die off, dann habt ihr 'ne Sachbeschädigung, aber keen Diebstahl... "

Papiersammler: " Ne, ne. "

Ronald Kürschner: " Die sind Entsorger und machen Geld damit, das darf die Stadt gar nicht. Die machen über 'ne andre Firma machen die Geld damit. "

Papiersammler: " Ach so... "

Ronald Kürschner: " Die dürfen's gar nicht und die dürfen sich dabei gar nich offregen. Das ist kein Diebstahl! "

Papiersammler: " Hey, Udo, was sagst denn du? "

Papiersammler: " So, ich will erstmal Ausschütten meine Kartons... Alles klar... "

Etwa drei Dutzend Leute kamen am Morgen in den Altwarenhandel. Viele Rentner und arbeitslose Männer. Der Mann und die blonde Frau, die heute noch eine Wohnung entrümpeln wollten, waren noch einmal dagewesen und brachten zwei Bettgestelle und Säcke mit Papier.

Einmal fuhr ein junger Mann in einem zerbeulten Renault vor. Im Kofferraum lagen Papierstapel. Der Mann schleppte die Bündel auf die Waage, seinen Kopf hielt er dabei gesenkt. Ich fragte ihn, ob er öfter hierher komme. "Nö", nuschelte er und drückte das Mikrofon zur Seite, "hab nur mein' Keller aufgeräumt". - "Ach was", sagte Udo später, "der kommt jeden Tag."

Als ich am Mittag durch die Straßen des Viertels nach Hause gehe, sehe ich an der nächsten Ecke die beiden Papiersammler mit den 'Rotkehlchen'-Kisten vorüberhuschen. Die Kisten sind schon wieder voll. Noch lange höre ich das Klackern der Wagenräder auf dem Kopfsteinpflaster.