Alles nur Käse?

Von Pascal Lechler · 26.01.2011
Gruyère ist ein malerisches Städtchen am Fuße der Voralpen. Der autofreie Ort hat nicht nur einer ganzen Region, sondern auch dem meistverkauften Schweizer Käse seinen Namen verliehen. Der Ort besteht eigentlich nur aus einem großen Platz, um den sich einige mittelalterliche Häuser gruppieren, einem Stadttor und einer Kirche. Über allem thront das Schloss, der Stammsitz der Grafen von Gruyère. Das Städtchen ist ein Touristenmagnet, vor allem wegen des herzhaften Essens: Fondue, Raclette, Meringues und Double Crème.
"Bonjour Messieurs, Dames ..."

Die Sitzplätze ins Milch-, Käse- und Schokoladenland Gruyère - auf Deutsch Greyerzerland - müssen vor Abfahrt reserviert werden. Der Preis beinhaltet ein kleines Frühstück.

"Bonjour, alors qu`est ce que ..."

Der Schokoladenzug schlängelt sich durchs Saanental. Satte Alpwiesen, auf denen Kühe weiden, schmucke Dörfer, prächtige Chalets und dichte Tannenwälder ziehen wie in einem Heimatfilm am Fenster vorbei.

Nach etwa einer Stunde erreicht der Schokoladenzug Gruyère. Das Städtchen hat gerade einmal 1500 Einwohner. Der neuere Teil gruppiert sich um den Bahnhof. Das Schloss im Savoyer Stil und die malerische, sehr kleine Altstadt thronen auf einem Hügel. Dahinter wie von Bühnenbildnern geschaffen, fällt der Blick auf mehrere Zweitausender und die imposante Kette der Gastlosen mit ihren schroffen Felsen, die spitz in den Himmel ragen.

Gleich gegenüber dem kleinen Bahnhof befindet sich das Maison du Gruyère – es ist eine Kombination aus Schaukäserei, Museum, Restaurant und Souvenirladen. Das Maison du Gruyère ist eine der größeren Käsereien der Region. Jährlich werden hier sechs Millionen Liter Milch zu Gruyère verarbeitet – in Deutschland auch unter Greyerzer bekannt. Selbstverständlich dürfe für den Käse nur Milch aus der Gegend verwendet werden, erklärt Jacques Ecoffey, einer der Käsemacher.

"Es gibt ungefähr 140 Käsereien, die den Gruyère herstellen. Das Gebiet, in dem der Gruyère produziert werden darf, ist begrenzt und zwar auf die Kantone Waadt, Neuenburg und Fribourg. Eine Käserei, die vorher nie Gruyère gemacht hat, darf nicht einfach anfangen, Gruyère herzustellen."

Nur wenige Kilometer entfernt, direkt am "Röstigraben", also an der Grenze zwischen der französischen Schweiz und der Deutschweiz, ist auch Gérad Biland dabei, die Milch vom Morgen zu verarbeiten. Nebelschwaden hängen über dem Grenzbach. Bilands Chalet steht auf der französischen Seite. Auf Deutschschweizer Seite erhebt sich wie eine Wand die Kette der Gastlosen. Dieser imposante Bergzug trennt das liebliche, voralpenländische Greyerzerland vom alpinen Simmental im Kanton Bern.

Bilands Käserei ist im Erdgeschoss des Chalets namens Invuettes-Dessous untergebracht. Mitten im Raum steht ein großer Zinkkessel. Die Luft ist stickig und feuchtwarm. 800 Liter Milch sind durch das Hinzugeben von Bakterien zu einer dicklichen Masse geworden. Mit der Käseharfe zerschneidet Biland diese joghurtähnliche Masse.

"Jetzt kommt der heikle Moment. Ich werde die Masse jetzt zerschneiden und den Käsebruch erzeugen. Man muss das vorsichtig machen. Das geht nicht mit einem Rührgerät."

In Bilands kleiner Chalet-Käserei wird - anders als im Maison du Gruyère – der Käse noch von Hand hergestellt. Um den Käsebruch von der Molke zu trennen, wird die Masse durch großporige Tücher gezogen. Das gleicht ein bisschen dem Fischen mit einem Netz. Die feste Masse wird dann in Käseformen gefüllt.

Nach fünf Monaten ist der Gruyère noch mild, nach rund acht Monaten ist er mittelreif. Richtig kräftig schmeckt der Gruyère nach zwölf Monaten Reifungsprozess.

Im großen Käsekeller des Maison du Gruyère herrscht eine Temperatur von 14 Grad. Hier lagern über 7000 Käselaibe. Der Geruch von Ammoniak beißt in der Nase. Der Gestank ist die Folge des Reifeprozesses des Gruyère.

"Ammoniak entsteht durch die Proteolyse, das ist der Alterungsprozess, in dem die Proteine abgebaut werden. Und am Ende dieses Prozesses wird Ammoniak freigesetzt."

Im Grunde wird der Käse durch diesen Prozess erst bekömmlich. In den ersten zehn Tagen werden die Laibe täglich gewendet und mit einer Mischung aus Salz und Wasser gewaschen. Am Ende des Reifungsprozesses werden die Käse nur noch einmal pro Woche eingerieben. Die Arbeit wird in kleinen Käsereien wie der von Gérad Biland vom Käser selbst verrichtet. Im Maison du Gruyère gibt es Roboter, die die Käselaibe aus den Regalen nehmen und einreiben. Der Käse erhält nach und nach seine typische gelbe Farbe.

Nach drei Monaten übernehmen Käsehändler die Laibe, die sie dann weiterpflegen. Wenn sie ausgereift sind, werden sie von einer Fachkommission kontrolliert und taxiert. Es gibt vier Bewertungskriterien. Insgesamt können maximal 20 Punkte vergeben werden.

"Der Experte wird zu Beginn den Käse abklopfen. Er findet damit heraus, ob der Käse Löcher hat. Im Gruyère dürfen keine Löcher sein."

Gérard Biland stellt in seiner kleinen Käserei neben dem Greyerzer auch noch den Sérac, einen Frischkäse, und alle Arten von Tomme her, eine Art Camenbert. Das A und O sei immer die Milch. Ihre Herkunft bestimme letztlich, wie der Käse schmecke, sagt Biland:

"Ich mache nicht eine besondere Rezeptur. Es ist die besondere Milch."

Die ganze Küche des Gruyère ist auf die Milch, die Sahne und den Käse ausgerichtet. Die gut ein dutzend Restaurants in der malerischen Altstadt bieten unisono die Spezialitäten der Region an. Gegen Mittag füllen sich die Terrassen der Restaurants von Gruyère am Fuße des Schlosses. Hier noch bei schönem Wetter einen Platz zu ergattern, ist Glückssache. Nicht nur die Reisenden des Schokoladenzugs bevölkern um die Mittagszeit mit hungrigen Mägen den großen Platz inmitten der Altstadt – Buskolonnen befördern täglich Tausende nach Gruyère. Für so eine hungrige 50-köpfige Busreisegruppe bereitet Jean-Michel Offner in seiner Küche im Hotel Fleur de Lys gerade eine Spezialität der Region zu: die Käse-Makkaroni.

""Ich dünste den Lauch, die Zwiebeln, dann den Schinken, ... dann kommen die ungekochten Makkaroni direkt in den Topf."

Das Ganze wird dann lediglich mit Salz und Pfeffer gewürzt. Je nach Geschmack fügt man noch ein bisschen Rinderbrühe und Muskat dazu. Die Nudeln garen dann in der Milch, am Schluss wird die Sahne hinzugegeben. Der Geruch lässt einem das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die meisten Gäste essen bei Jean-Michel Offner jedoch Fondue.

Die Desserts des Greyerzerlandes sind ähnlich reichhaltig wie die Hauptspeisen: Der Klassiker sind frische Meringuen mit einem kräftigen Schuss der dickflüssigen Sahne, der Double-Creme darüber - je nach Saison wird das Ganze dann mit frischen Erdbeeren verfeinert. Und wer dann noch nicht genug hat, bekommt noch eine Kugel Vanilleeis dazu – fait à la maison. Das cremige Eis ist selbstverständlich auch aus frischer Greyerzer Milch hergestellt.

Auch die Tarte au vin cuit ist beliebt. Allerdings hat dieser Kuchen - anders als der Name nahe legt - nichts von gekochtem Wein. Ein Mürbeteig wird mit einer sirupartigen Schicht aus gekochten Birnen bestrichen. Die Küche des Gruyère ist eine typische Bauernküche: Die Gerichte sind schwer und nahrhaft, schließlich mussten die Senner auch den ganzen Tag hart arbeiten. Nichts für Gesundheitsfanatiker, meint Offner:

"Den Leuten, die salzarm und fettfrei essen wollen, empfehle ich, im Krankenhaus zu essen. Wir sind Köche und keine Ärzte (lacht)."

Die kleine, autofreie Altstadt von Gruyere ist geprägt von malerischen, mittelalterlichen Häusern, die sich um den Hauptplatz mit Brunnen gruppieren. Die Denkmalschützer achten streng darauf, dass der Charakter Gruyères erhalten bleibt. Oberhalb des städtebaulichen Kleinods thront das Schloss mit seinen drei Türmen und den Wehranlagen. Es war lange Zeit der Stammsitz der Grafen von Greyerz, die dem Käse und der Region den Namen verliehen haben.

Die Idealisierung des Alplebens geht einher mit der Industrialisierung der Käsewirtschaft. Mit dem Bau der Eisenbahn 1830 beginnt die Schweiz, Korn zu importieren. Im flacheren Land können Getreideäcker zu Viehweiden umgewandelt werden. Es entstehen immer mehr Dorfkäsereien. Anders als auf der Alp kann der Gruyère nun nicht mehr nur im Sommer, sondern das ganze Jahr über hergestellt werden.

Die Produktion von Alpkäse in den Bergen wird wirtschaftlich immer uninteressanter. Heute werden 80 bis 90 Prozent des Gruyère in Dorfkäsereien während des ganzen Jahres produziert. Oben in den Bergen stellen von ehemals weit über 1000 nur noch 40 Alpen Käse her. Um noch produktivere Kühe zu haben, kreuzte man in den 70er-Jahren die Freiburger Rasse mit Holsteinerkühen aus Kanada. Diese geben jetzt zwar sehr viel mehr Milch, aber auf Grund ihres bulligen Körperbaus kann man sie kaum mehr auf eine Alp treiben.

Der Wohlstand der Region, der auf der Käsewirtschaft basiert, wird vor allem in den prächtigen Patrizierhäusern in Bulle, den Wohnhäusern der Käsehändler, sichtbar.

Doch Ende des 19. Jahrhunderts gerät die Käseherstellung in die Krise. Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 darf die Schweiz keinen Käse mehr nach Frankreich exportieren.

Wohin mit der vielen Milch? Die Überproduktion macht sich Alexandre Francois Louis Cailler zu nutze. Caillers Großvater hatte 1819 in Coriser-sur-Vevey mit der industriellen Schokoladenfabrikation begonnen. Enkel Cailler geht Ende des 19. Jahrhunderts ins Greyerzerland. Hier findet der junge Cailler alles, um seine Schokolade gewinnbringend herzustellen: Milch, Strom und Arbeiter. Viele Senner sind dringend auf ein Zubrot angewiesen.

Bislang hatten sie sich neben der Milchwirtschaft mit dem Flechten von Strohzöpfen über Wasser gehalten. Diese Strohzöpfe werden im Aargau anschließend zu Hüten weiterverarbeitet. Doch bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert lässt die Billigkonkurrenz aus China die Preise fallen. Mit Strohzopfflechten ist nichts mehr zu verdienen. Da kommt die neue Fabrik von Cailler mit Arbeit für die Senner wie gerufen.

Der Schokoladenexpress fährt von Gruyère weiter nach Broc. Hier steht noch die alte Fabrik von Cailler. Seit 1898 wird hier aus Greyerzer Milch die feine Schweizer Milchschokolade hergestellt. Längst ergänzt eine moderne Produktionshalle das alte Fabrikgebäude. Cailler hat für Schoko-Freaks ein Besucherzentrum eingerichtet: das Maison Cailler. Hier können sie den Chocolatiers bei der Arbeit über die Schulter schauen. Die gute Milch des Greyerzerlandes sei der Grund, warum Cailler auch heute noch in Broc produziere, sagt Thomas Tschuor von Cailler

"Um uns rum hat man dann schon 1890 gearbeitet. Die Milch der Kühe macht bis heute die Besonderheit der Cailler Milchschokolade aus."

Pünktlich um kurz vor vier verlässt der Schokoladenzug wieder Broc und das Greyerzerland. Das Schloss Gruyère sonnt sich im warmen Licht des Nachmittages. Am Fenster ziehen satte Wiesen und kleine, dunkle Tannenwälder vorbei. Auf Lichtungen stehen prächtige Chalets mit üppig blühenden Geranien vor den Fenstern. So weit das Auge reicht: hellbraune Kühe, die unermüdlich grasen. Schon morgen wird ihre Milch wieder zu Greyerzer Käse oder leckerer Schweizer Milchschokolade verarbeitet.