"Alles ist preisgegeben in der digitalen Welt"

Gary Shteyngard im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 15.09.2011
Der amerikanische Autor Gary Shteyngard meint, dass wir uns heute zu sehr den elektronischen Medien ausgeliefert hätten. Wenn eine Regierung oder ein Unternehmen etwas über uns erfahren wolle, brauche es nur unser Internet-Profil auszuspähen.
Stephan Karkowsky: Im Grunde genommen ist die Zukunftswelt in Gary Shteyngarts neuem Roman gar nicht so weit von unserer entfernt: Der Autor hat nur eine Folie über die Realität gelegt, die das ohnehin Absurde sichtbar macht. Die Gerätekonvergenz etwa: Jeder trägt in dieser Welt ein Gerät mit sich rum, das alles kann.

Dieser "Äppärät" enthält alle unsere Daten, kann aber problemlos auch die Daten von anderen lesen: Gesichter erkennen, Kontostände ausspähen, Konsumgewohnheiten und Krankengeschichten offenlegen bis hin zu den Cholesterinwerten und dem Blutdruck. Daten sind nicht länger geschützt, das Private existiert nicht mehr. Nerds, das sind Menschen, die Bücher lesen und keine Pornos gucken. Der Dollar ist an den chinesischen Yuan gekoppelt. Der Mann, der sich das ausgedacht hat, ist nun bei mir. Er ist 39 Jahre alt, lebt in New York und heißt Gary Shteyngard, guten Morgen!

Gary Shteyngard: Good morning!

Karkowsky: Diese neue Welt, die Sie beschreiben: Gibt es darin überhaupt Dinge, die Ihnen gefallen?

Shteyngard: Eines, was in diesem Buch vorkommt, sind durchsichtige Jeans, die da die Frauen tragen. In den New Yorker Sommern ist es ja sehr warm, und da sind die Frauen auch fast nackt. Zwei Monate nachdem dieses Buch herausgekommen ist, hat die "New York Times" über eine Modenschau berichtet, wo Frauen tatsächlich vollständig durchsichtige Jeans trugen, und erwähnte auch mein Buch "Super Sad Love Stories".

Karkowsky: Und das Emotepad, das den Fickfaktor ermitteln kann für jede Frau, die man in einer Bar kennenlernt?

Shteyngard: Das ist sehr aufregend, denn es wird ja dadurch festgehalten, wie attraktiv ein Mann ist. Wenn er zum Beispiel sehr attraktiv ist und in eine Bar geht, dann wird sein Fickfaktor hoch sein. Wenn aber zum Beispiel ein Mann daherkommt wie ich, der eher klein ist und eine Glatze hat, der wird also einen sehr niedrigen Fickfaktor haben. Zum Beispiel der 90. unter 20 Männern. Jedoch, wenn er wiederum einer attraktiven Frau begegnet, wie Lenny zum Beispiel, dann steigt dieser Faktor an. Diese Frau, Eunice, seine Geliebte in dem Buch, die führt dann natürlich dazu, dass sein Fickfaktor nach oben geht. Ich habe gehört, dass die Menschen bereits an einem derartigen Gerät arbeiten.

Karkowsky: Man kriegt beim Lesen den Eindruck: Das Internet ist lebendig geworden - die Pornoinhalte, die Indiskretionen, die unsicheren Daten, der Voyeurismus von Google Street View, die Gossensprache in Chats, in Foren, Textnachrichten - alles ist nun Alltag und keiner wehrt sich gegen den totalen Datenstriptease. Ist das nur als Satire gemeint, oder halten Sie diese Welt in Zukunft für möglich?

Shteyngard: Diese Welt gibt es bereits jetzt. Wenn Sie etwa den Roman 1984 lesen, werden Sie erstaunt sein, zu sehen, wie altmodisch er erscheint, da mit dieser Regierung, die mithilfe dieser Bildschirme in das Privatleben aller Bürger hineinschaut, wo der Große Bruder einen immer beobachtet. Heute dagegen haben wir uns doch schon ausgeliefert.

Wir sind immer irgendwie online, verpflichtet gegenüber einer anderen Macht, alles ist preisgegeben in der digitalen Welt. Wenn eine Regierung, oder noch wichtiger, irgendein Unternehmen etwas über uns erfahren will, brauchen sie nur unser Profil auszuspähen. Ich finde das höchst beängstigend, denn es zeigt ja, dass wir nicht nur uns keine Gedanken darüber machen, sondern dass wir diesen Zustand sogar willkommen heißen.

Karkowsky: Sie haben mal an anderer Stelle erzählt, wie Sie überhaupt auf die Idee gekommen sind, hier den Niedergang des digitalen Amerikas zu beschreiben: Als Sie zuhause Besuch hatten von einem Installateur.

Shteyngard: Nun, es war eigentlich kein Klempner, sondern ein Fernsehtechniker, ein Mann in seinen frühen 20ern, mit jamaicanischem Akzent, der mal in meine Wohnung kam, um etwas zu reparieren. Wie die Hauptgestalt im Buch, wie Lenny, habe ich meine Wand über und über bedeckt mit Büchern. Und er schaute da drauf und sagte: Ey, woher du hast so herbekommen all diese Bücher und nur so einen kleinen Fernsehapparat?

Also, er tat so, als wäre ich sozusagen entmannt, weil ich nur so eine kleine Einheit habe, und dann hat er noch hinzugefügt: Na, wenigstens hältst du sie in Ordnung. Er freute sich darüber, dass sie nicht wild herumflogen. Also, da wurde mir das klar, dass unter vielen jungen Menschen der Besitz von so vielen Büchern als etwas anrüchiges oder verächtliches gilt, als wäre es Zeichen für moralischen Niedergang.

Karkowsky: Wir reden mit Gary Shteyngard über sein neues Buch "Super Sad True Love Story". Mister Shteyngard, ich lese Ihr Buch auch als Kritik an der digitalen Welt. Ist diese Kritik etwas, die dazu geführt hat, dass Sie Konsequenzen gezogen haben und künftig auf digitale Geräte verzichten?

Shteyngard: Nun, ein Heroinsüchtiger wird größte Mühe haben, sich von seiner Sucht zu befreien. Als ich diesen Roman schrieb und meine Recherchen machte, hatte ich kundigen Beistand durch einen Facebook- und iPhone-Experten, und sie haben mich eingewiesen in diese Welt, und ich bin auch ganz in ihr aufgegangen. So sehr, dass ich gar nicht mehr ohne diese Geräte leben kann. Vor zwei Wochen ist mein iPhone zusammengebrochen, und ich habe fast schon das Gefühl, dass ich jetzt gar nicht mehr existiere.

Ich bin sozusagen eine Art Untermensch, also das Gegenteil eines Übermenschen, und das ist doch recht erschreckend. Wenn ich zum Beispiel jetzt umherreise und einfach keine Bilder mehr und keine Kommentare von meinen Hunden liefern kann, das, was eigentlich neben dem Romaneschreiben meine Hauptbeschäftigung ist. Ich bin also sozusagen jetzt hier leer und existiere nicht mehr voll. Und das ist doch schon sehr erschreckend, denn wir glauben meistens, dass wir die Herren über diese Technik seien, aber in Wahrheit ist, dass die Technik uns beherrscht und wir alle Anstrengungen unternehmen, um uns möglichst an diese technisierte Welt anzupassen.

Karkowsky: Nachdem Sie Ihre Leser 370 Seiten lang eingeführt haben in diese schöne neue Welt, spielen Sie am Ende Gott: Sie schalten die Kommunikationsnetze ab. Die "Äppäräte" der Menschen funktionieren nicht mehr. Die Welt wird blind, taub und stumm. Es gibt nichts mehr zu lesen, weil alle Texte, Bücher, Informationen, alle Bilder hängen in der Cloud – auf Datenservern – und können nun nicht mehr gestreamt werden. Die Kommunikation kommt zum Stillstand. Manche ertragen das nicht und begehen Selbstmord. Ihrem Liebespaar aber, Eunice und Lenny, scheint das ganz gut zu tun, oder?

Shteyngard: Es ist eine sehr aufregende Zeit, weil die Menschen dadurch Gelegenheit finden, miteinander zu sprechen oder sich auch der Liebe hinzugeben, etwas, was häufig durch das iPhone aufgefressen wird, weil man ja für diese Tätigkeit mindestens 15 oder 20 Minuten braucht. Es ist also durchaus eine spannende Zeit, und Lenny fängt während dieses Datencrashs ja an, seiner Geliebten Eunice Milan Kundera vorzulesen.

Das Mädchen ist 24 Jahre alt, und wie so viele Frauen oder Menschen in der Zukunft kann sie nicht mehr lesen. Sie hat ja an der Universität Bildwissenschaft und Selbstbewusstsein studiert, also wie man sich möglichst selbstbewusst als Marketing-Mensch verhält. Das heißt, als dann Lenny ihr das Buch vorliest, versteht sie eigentlich kein Wort und sie beschließen dann eben doch, sich dem Sex wieder hinzugeben, weil das besser klappt, aber selbst das ist eben auch eine bessere Verwendung der Zeit.

Karkowsky: Deutlich machen Sie aber auch, wie sehr die USA schon jetzt abhängig sind von China. Als die Chinesen die Geduld verlieren mit den USA, verkaufen Sie amerikanische Staatsanleihen. Glauben Sie eigentlich, dass der Durchschnittsamerikaner sich dieser Gefahren bewusst ist? Also, nicht nur, was die Abhängigkeit von China angeht, sondern generell, auch die Abhängigkeit von der digitalen Welt?

Shteyngard: Nun, wir haben ja äußerst eindrücklich in den Vergangenen Monaten erfahren, wie abhängig wir sind, als unsere Staatsanleihen ein schlechteres Rating bekommen haben. Da haben wir erstmals gemerkt, dass wir nicht weiterhin riesige Fernseher kaufen können und sie dann durch unsere Immobilien auf Kredit finanzieren können – die Häuser, die ja ebenfalls an Wert verlieren. Das ist schon ein Schlag ins Kontor für die Amerikaner, die ja glauben, dass Gott sie zu den Herrschern über Land, über Menschen und über die Meere gemacht hat.

Die Chinesen selbst sind noch nicht imstande, diese Staatsanleihen jetzt zu verkaufen, aber in der zukünftigen Welt, in meinem Buch, haben sie tatsächlich es geschafft, eine Art Binnenwirtschaft aufzubauen, die sie dann abfedert gegenüber solchen Verkäufen von amerikanischen Staatsanleihen, und dann könnte dieses bedrohliche Szenario tatsächlich eintreten.

Karkowsky: Zum Schluss die Frage: Wie liest man ihr Buch denn in den USA: Vor allem als spaßige Satire, oder wird dort auch im Ernst, in den Talkshows vielleicht, über Ihre Thesen diskutiert?

Shteyngard: Na ja, am Anfang hat man es tatsächlich als eine Art lächerliche Satire mit romantischen Einsprengseln gelesen. Da aber fast alles, was in dem Buch beschrieben ist, im letzten Jahr eingetreten ist, werde ich nunmehr immer wieder eingeladen, um meinen sowjetisch-aschkenasischen Pessimismus mit den Zuhörern zu teilen.

Karkowsky: "Super Sad True Love Story" heißt der neue Roman von Gary Shteyngart aus New York. Danke für das Gespräch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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