Alles ist ein großes Ganzes

Von Susanne Billig |
Indien lockt jährlich über 80.000 deutsche Touristen an. Grund genug für die Digitale Bibliothek, mit den "Klassikern der indischen Philosophie" Grundlagentexte dieser Kultur gesammelt in deutscher Sprache zur Verfügung zu stellen.
"Zu jener Zeit war weder Sein, noch Nichtsein,
nicht war der Luftraum, noch der Himmel drüber;
Was regte sich? Und wo? In wessen Obhut?
War Wasser da? Und gab's den tiefen Abgrund?
Nicht Tod und nicht Unsterblichkeit war damals,
nicht gab's des Tages noch der Nacht Erscheinung;
nur EINES hauchte windlos durch sich selber
und außer ihm gab nirgend es ein andres.’’"

Diese Zeilen gehören zu den ältesten Zeugnissen der Philosophie: der Liebe des Menschen zum Sinnieren über die Welt und ihre Geheimnisse. Sie entstanden vor nicht weniger als dreitausend Jahren - in Indien. Die Klassiker der indischen Philosophie sind nun in einer digitalen Zusammenstellung vereint. Der Indologe Peter Gäng vom Buddhistischen Studienverlag ist davon ganz angetan:

""Diese CD-Rom von der Digitalen Bibliothek ist eine fast einmalige Zusammenstellung von Texten zur indischen Philosophie, die ersetzt wirklich einen Meter Bücherregal. Und es sind eine Zusammenstellung von Texten aus dem Veda, aus den Upanishaden und Brahmanas und buddhistische Texte, dann auch noch Texte aus der Hindu-Philosophie - also wirklich eine unglaublich intensive Sammlung von Texten. Das kriegt man nicht mal antiquarisch zusammen."

Die Reise durch die weiten Welten des indischen Denkens gelingt mit der Bediensoftware "Digibib". Man kann blättern, springen, per Mausklick assoziieren und Textstellen in Fundlisten speichern. Die alten Gedanken treten uns faszinierend aktuell entgegen:

"Nicht ist der Hunger stets des Todes Quelle nur,
den Satten auch ereilt des Todes Missgeschick,
Und nicht vergeht der Reichtum des Barmherzigen;
wer hart ist, findet den nicht, der sich sein erbarmt.
Wer einem Dürft'gen, der nach Trunk verlangend lechzt,
dem Armen, der ihm hungernd naht, nicht Nahrung gibt,
Sein Herz verhärtet gegen den, der flehend kommt,
der findet nimmer den, der seiner sich erbarmt."

Eine Aufforderung zur Nächstenliebe – in einem uralten indischen Text.

"Also es geht im Wesentlichen um den so genannten ‚Rig-Veda’ - das ist die älteste indische Textsammlung, die es überhaupt gibt - das sind Texte, die stammen ungefähr aus dem Jahr tausend vor Christus, und die decken im Wesentlichen, ja, das religiöse Spektrum damals in Indien ab. Das sind zu ’nem ganzen Teil Lieder, in denen Gottheiten angerufen werden, dann manche Schöpfungslieder dabei - und teilweise wunderbare Texte einfach."

Während sich unsere westliche Kultur vor allem mit der Frage beschäftigt, wie man überhaupt zu Wissen gelangen kann, befasst sich der Osten intensiv mit dem, was nicht vorhanden ist: Dem "Nicht-Sein" und "Nicht-Wissen". Das gilt vor allem für den Buddhismus.

Der berühmteste Denker des buddhistischen Nichts ist gleichfalls auf der CD-Rom vertreten: Es ist Nagarjuna, der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert lebte. "Nichts" und "leer", das heißt bei Nagarjuna nicht öde und tot. Dinge, Lebewesen und selbst Gedanken sind leer, weil sie nicht aus sich selbst heraus, isoliert existieren. Das macht Nagarjuna an zahllosen Beispielen plausibel.

"So eins der berühmtesten ist, dass er sagt, es gibt niemand, der geht, und es gibt keinen Weg, den er geht, und es gibt kein Gehen, weil das kann’s ja auch gar nicht geben, sondern es kann ja nur das Ganze geben. Und wenn das Ganze da ist, ist natürlich jeder Versuch, aus diesem Ganzen was auszugliedern und zu sagen, "das ist ein Gehender", ist ja einfach Quatsch, weil ein Gehender ist ein Gehender, wenn er gerade geht, und wenn’s einen Weg gibt, auf dem er geht, und wenn’s eine Welt gibt, in der dieser Weg ist, auf dem er geht – und und und."

Alles, was existiert, und sei es ein Weg in der Landschaft, ist eingewoben in ein unauflösbares Ganzes. Leider stammen viele Übersetzungen der CD-Rom aus dem neunzehnten Jahrhundert, als deutsche Übersetzer noch sehr theoretisch zu Werke gingen. Dabei lädt die indische Philosophie zum Mitmachen ein – meint Peter Gäng. Erst dann erschließt sich beispielsweise ein Ausdruck wie parimuccam – dorthin soll der Meditierende seine Aufmerksamkeit richten.

"Und pari heißt eigentlich rings und mucca ist der Mund oder das Gesicht. Und wenn man das wirklich probiert, dann merkt man, also das geht natürlich alles: Man kann die Aufmerksamkeit auf den Mund richten oder auf die Gegend oberhalb des Mundes. Aber am Eindrucksvollsten ist schlicht, wenn man versucht, sich erstmal alles um sich selber herum zu vergegenwärtigen."

Der Meditierende achtet auf die Geräusche ringsumher, fühlt den Boden, auf dem er sitzt, nimmt die Welt bewusst wahr.

"Und deshalb spricht mir alles dafür, dass es genau das heißt. Aber dazu muss man’s halt ausprobieren."

Noch heute gibt es in Indien Menschen, die die riesigen Textmengen der indischen Philosophie auswendig können und ganz darin eingetaucht leben.

Der Gelehrte kann sich die Originale auf Pali erschließen – für interessierte Laien gibt es nun die CD-Rom. Peter Gäng vom Buddhistischen Studienverlag ist davon überzeugt: Wer sich ernsthaft für Philosophie interessiert, kommt am indischen Denken nicht vorbei.