Alles gesagt, alles bekannt, nichts Neues

Von Ehrhart Neubert |
Die Wunden sind nur an der Oberfläche vernarbt, die Verletzungen sitzen tiefer und wirken nachhaltiger. Dabei geht es nicht nur um einige hunderttausend Menschen, die in der DDR aus politischen Gründen im Gefängnis sitzen mussten, nicht nur um noch mehr Menschen, die beruflich benachteiligt wurden, deren Biografien von Kindheit an zu ihrem Nachteil gelenkt wurden.
Verletzt wurde ein ganzes Volk, eingesperrt, entmündigt und mit Verboten aller Art belegt. Millionen setzten sich in den Westen ab. Und viele Menschen waren durch eine Ideologie vergiftet, die Ihnen einredete, dass das alles zu Ihrem Glück geschehe.

In diesem kaputten Land mit vielen kaputten Menschen fand 1989 eine Revolution statt. Die Exponenten des Systems sollten entmachtet und ihre öffentlichen und heimlichen Helfer aus Politik und Verwaltung entfernt werden. Das ist auch geschehen - im Großen und Ganzen. Der Aufbau neuer demokratischer Strukturen und die Einrichtung des Rechtsstaates vollzogen sich rasch. Der Personalwechsel sollte nach rechtlichen Maßstäben von statten gehen. Das Stasiunterlagengesetz ermöglichte tausende Überprüfungen und führte auch zu zahlreichen Ausschlussverfahren.

Allerdings ist dieser Prozess bei Weitem nicht perfekt und nicht überall konsequent verlaufen. Anfang der 1990er Jahre gab es große Wissenslücken und Einstellungen wurden bisweilen großzügig vorgenommen. Manche Landesregierungen, wie in Sachsen-Anhalt und in Brandenburg, waren besonders nachsichtig. In Brandenburg hatte der damalige Ministerpräsident, Manfred Stolpe, selbst zu erklären, warum ihn das MfS als IM "Sekretär" führte. Die Energie andere IM’s zu entlassen war da nicht groß. Einige Belastete schlüpften auch durch die Maschen, weil es keine oder nur zu wenige Akten über sie gab. Andere waren nur geringfügig belastet. Manche nutzten die Vorzüge des Rechtsstaates, der im Zweifel für die Angeschuldigten entscheidet.

So gibt es eben jetzt einige tausend MfS-Mitarbeiter im öffentlichen Dienst. In Thüringen sollen es 800 von 30.000 sein. Das ist selbstredend für Verfolgte und Benachteiligte zu viel. Hier kann nur gehofft werden, dass die Einstellung nach einer klaren und fairen Einzelfallprüfung von statten ging. Jetzt, nachdem breite Überprüfungen auf gesetzlicher Grundlage eingestellt sind, können nur noch wenige höhergestellte Beamte und Politiker überprüft werden. Davon können Dienststellen, vor allem die Landesregierungen auch noch Gebrauch machen.

Allerdings sollte die Debatte über verbliebene Stasileute nicht andere viel ärgerlichere Umstände verdecken. Die DDR lebt ja nicht im Buchhalter des MfS weiter, sondern in der politischen Nostalgie. Oft wird versucht, den Diktaturcharakter der DDR zu leugnen und ihr werden soziale und kulturelle Vorteile gegenüber dem Westen zugeschrieben, die sie nie hatte. Immer häufiger treten Stasileute in der Öffentlichkeit auf, um ihre alten Legenden zu erneuern.

Mehrfach habe ich Leserbriefe von ehemaligen IM gesehen, die natürlich nicht mit ihrem Decknamen unterzeichneten. Immerhin gibt es die umbenannte SED noch. Sie verfügt über einen alten Kaderbestand, auch über Stasileute, die die DDR als Wunderland anpreisen. Und sie verfügt in den Landtagen und anderen Parlamenten auch über Einfluss. Wer das nicht will, hat ein Mittel dagegen, den Stimmzettel.

Zu ungewollten Helfern der Diktatur werden auch Politiker, Wissenschaftler und Publizisten aus dem Westen, die die Lebensverhältnisse in der DDR nicht kannten. Viele von ihnen sind zwar wackere antikommunistische Maulhelden. Aber nicht ein einziges westliches Landesparlament oder gar der Bundestag wurden je überprüft.

Was wir von der Unterwanderung des Westens wissen, stammt aus Forschungen oder aus Zufallsfunden in den Akten, jedenfalls nicht aus Überprüfungen. Hier gäbe es im Rahmen des Möglichen noch Nachholbedarf. Und peinlich ist es besonders, wenn westdeutsche Politiker, wie der mecklenburgische Ministerpräsident Erwin Sellering meinen, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen.

Die Demokratie geht nicht zu Grunde, wenn es einige fragwürdige Gestalten in ihren Apparaten gibt. Sie nimmt aber Schaden, wenn sie nicht eine politische Kultur der öffentlichen Transparenz entwickelt. Vor 20 Jahren haben die Ostdeutschen durch die Besetzung der MfS-Zentralen ihre Akteneinsicht erkämpft. Sie wussten schon immer, dass Freiheit durch Einsicht möglich wird.


Ehrhart Neubert, Theologe: In der DDR Mitarbeiter in Friedenskreisen und in der Wendezeit 1989/1990 Mitgründer des Demokratischen Aufbruchs. Im vereinten Deutschland auch wieder im kirchlichen Dienst tätig und in zahlreichen Initiativen, Ausschüssen und wissenschaftlichen Projekten, die der Aufarbeitung der DDR-Hinterlassenschaften dienten.