"Allein mit meinem Spiegelbild"

Von Hans Bräunlich · 24.12.2011
1907 als Tochter einer österreichischen Mutter und eines russischen Vaters in Galizien geboren, wird die jüdische Dichterin Mascha Kaléko um 1930 in Berlin als moderne Bänkelsängerin für das Feuilleton entdeckt.
Ihre zuerst in Zeitungen, später auch in Büchern gedruckten Verse über den Alltag für den Alltag sind sowohl gegenwartsnah als auch zeitlos. Geprägt von Melancholie und Ironie ähneln sie zwar den Gedichten von Erich Kästner, Kurt Tucholsky und Joachim Ringelnatz, haben jedoch ihren eigenen, weiblich-zärtlichen Klang und ihren unverwechselbar poetisch-sarkastischen Charme.

Als markante Beispiele großstädtischer Gebrauchslyrik sind sie zugleich Fragmente einer versteckten Autobiografie Mascha Kalékos, die 1938 mit ihrem zweiten Ehemann in die USA emigrierte, in den 50er Jahren nach Europa zurückkehrte, später vereinsamt in Israel lebte und 1975 in Zürich starb.

Über ihr von Konflikten und Verlusten geprägtes Leben äußerte sich Mascha Kaléko selbst nur ungern und verwies stets auf ihre Gedichte. Sie werden wie ihre Prosa-Skizzen daher in dieser dokumentarisch-lyrischen Collage bewusst als Teile ihres Lebensmonologes gedeutet und sollten auch so gehört werden. Ausschließlich Lyrik- und Prosa-Zitate wurden mit Brief-, Tagebuch- und Zeitzeugen-Zitaten assoziativ verbunden, um so ein möglichst authentisches wie literarisch überzeugendes Porträt von der Frau und Dichterin Mascha Kaléko zu zeichnen.

Mascha Kaleko

"Ich bin vor nicht zu langer Zeit geboren", lautet die erste Fassung ihres Gedichts "Interview mit mir selbst". Die zweite Fassung - 20 Jahre später vollendet - beginnt:

Ich bin als Emigrantenkind geboren
In einer kleinen klatschbeflissenen Stadt,
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine große Irrenanstalt hat.


Noch ist nicht die Zeit der Wanderschaft, des Exils, die letztendlich zu ihrem normalen Lebenszustand wird - der Verlust der Heimat, die Suche nach einer neuen Heimat -, aber schon in der frühen Kindheit muss sie ein Vorgefühl gehabt haben. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs - sie ist sieben Jahre alt - verlässt die Familie Aufen-Engel fluchtartig Galizien und die auseinanderbrechende Habsburger Monarchie.

Die alte Wobinichdennangst
Das feindliche Bett im Nirgendwo
Fremder Seifengeruch auf dem Kissen
So viele Brücken hinter dir verbrannt
Aus ihrer Asche immer wieder die falsche, die neue
Phönix-Heimat. Ich kann ja schreien. Gott sei dank.


Weiterlesen: berlin-judentum.de

Die Zukunft suchte ich in vielen Spiegeln;
Doch blieb sie mir ein Buch mit sieben Siegeln.
Nun reck ich mich im Spiegel dieser Zeit
Und such darin nach der Vergangenheit...
Wo blieb das kleine Mädchen mit den Zöpfen...
Dem blauen Schulkleid mit den Perlmuttknöpfen...


Linktipps:

Die Lyrikerin Mascha Kaléko - Zur Heimat erkor sie sich die Liebe - Von Marcel Reich-Ranicki im Feuilleton der FAZ

Zehn vertonte Gedichte als Podcast

Buchtipps:

Mascha Kaléko
Das lyrische Stenogrammheft
Kleines Lesebuch für Große
2010 Rowohlt TB.
Mascha Kalékos Gedichte von Liebe, Abschied und Alleinsein und von der Sehnsucht sind von jener "aufgeräumten Melancholie", die Thomas Mann an ihnen rühmte. Ihre volksliedhaften Verse sind Großstadtmärchen, die sich zu einem Lesebuch vom Leben summieren.

Mascha Kaléko
Der Papagei, die Mamagei und andere komische Tiere
Gedichte für neugierige Kinder. Illustr. v. Verena Ballhaus
2009 Boje Verlag
Mascha Kaléko zählt zu den eindrücklichsten lyrischen Stimmen der deutschsprachigen Poesie des 20. Jahrhunderts. Im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre erlebte sie ihren kometengleichen Aufstieg binnen kurzer Zeit galt sie als Philosophin der kleinen Leute, ihre Gedichte wurden in vielen Zeitungen abgedruckt, 1933 erschien ihr Lyrisches Stenogrammheft, das den endgültigen Durchbruch verschaffte. Die Nazis erteilten der jüdischen Dichterin jedoch schon bald Schreibverbot, 1938 emigrierte sie mit ihrer Familie nach New York. Mascha Kaléko, die in den fünfziger und sechziger Jahren in Deutschland nochmals ein wenig von dem alten Ruhm erreichen konnte, war sich Zeit ihres Lebens bewusst, dass sie Lyrik für den Alltag, Gebrauchsgedichte verfasste. Ihre Gedichte sollten sich reimen, der heiter-melancholische Grundton fand bei vielen Leserinnen und Lesern Anklang. In den fünfziger Jahren schrieb sie zwei Gedichtzyklen für ihren Sohn Steven. Der Papagei, die Mamagei und andere komische Tiere sind ihm und verspielten Kindern sämtlicher Jahrgänge gewidmet. Verena Ballhaus hat diese Texte mit dem ihr eigenen Witz illustriert, sie holt die leise Ironie hervor und poliert sie in ihren Zeichnungen gekonnt aufs Allerschönste.

Jutta Rosenkranz
Mascha Kaléko
Biografie.
dtv premium
2007 DTV
Mascha Kaléko wurde um 1930 in Berlin bekannt, sie gehörte zur künstlerischen Bohème um Kurt Tucholsky, Walter Mehring, Werner Finck und andere. Ihre ironischen, witzigen und gefühlvollen Großstadtverse werden geliebt. "Sie weiß auf alles eine Antwort, Laufmaschen, Halsweh, Eifersucht und billige Cafés - nichts ist ihr fremd. Sie reimt. Und das klug und mit Verstand! Sie ist eine Philosophin der kleinen Leute, vergaloppiert sich nie. Trotz Sentimentalität! Nie ist sie süßlich, verlogen, nein eher herb und sehr gescheit ... Ich hätte sie gern gekannt." Anna Rheinsberg

Mascha Kaléko
Die paar leuchtenden Jahre
Mit e. Essay v. Horst Krüger. Hrsg.
eingel. u. m. d. Biographie 'Aus den sechs Leben der Mascha Kaleko'
v. Gisela Zoch-Westphal dtv Taschenbücher
2003 DTV
Das große Mascha-Kaleko-Lesebuch: Gedichte, Chansons, Liefer und Prosatexte.

Mascha Kaleko
Das lyrische Stenogrammheft
Gedichte aus der Welt der Großstadt.
2007 Rowohlt TB.
Die "lyrischen Stenogramme" aus der Welt des Acht-Stunden-Alltags, der Großstadt und der Liebenden haben seit ihrem ersten Erscheinen nichts von ihrer romantischen Ironie und politischen Schärfe eingebüßt. Mascha Kaléko, die ihren Ruhm im Berlin der dreißiger Jahre errang, erinnert mit ihren eigentümlich-zärtlichen Gedichten an Erich Kästner. Von Alfred Polgar, Hermann Hesse und Thomas Mann wurde sie als Dichterin der Großstadt gefeiert.

Mascha Kaléko
Mein Lied geht weiter
Hundert Gedichte.
Ausgew. u. hrsg. v. Gisela Zoch-Westphal.
dtv München 2007
"Ich werde still sein; doch mein Lied geht weiter", so schreibt Mascha Kaléko in ihrem Gedicht "Letztes Lied". Ihren hundertsten Geburtstag nehmen wir zum Anlass, die beliebte Lyrikerin mit einem Geschenkbuch zu feiern, um ihr Lied wieder neu erklingen zu lassen.

Dazu:
Zum 100. Geburtstag der Dichterin Mascha Kaléko - Gisela Zoch-Westphal in der "Welt"
Als ich ihr zum ersten Mal begegnete, in Zürich am 19. Juni 1968, hatte ich noch nie ihren Namen gehört, noch nie ein Gedicht von ihr gelesen. Unvorstellbar, von heute aus gesehen! Damals wurde in kleiner Runde auf Einladung des deutschen Generalkonsuls Christoph Niemöller das Erscheinen eines Gedichtbandes "Verse in Dur und Moll" gefeiert. Jeder Gast bekam es zum Abschied mit einem Autogramm der Dichterin geschenkt. Als ich zu Hause darin blätterte, ließen mich die Verse nicht mehr los. Anderntags kaufte ich mir die beiden lieferbaren Bücher "Das himmelgraue Poesiealbum" und "Das lyrische Stenogrammheft" und erfuhr, dass dieser Versband Mascha Kaléko in den frühen Dreißigern in Berlin und darüber hinaus zu einer literarischen Berühmtheit hatte werden lassen. Ich las und las wieder: Ja, diese Vereinigung von Witz und Melancholie in ihren Versen, in denen Erich Kästners Sarkasmus aufblitzt, ihn aber in zärtlich-weibliche Rhythmen kleidet, ist ganz unverwechselbar.

Mascha Kaléko
Liebesgedichte
Ausgewählt von Elke Heidenreich
Insel Taschenbuch 3263
Frankfurt am Main und Leipzig 2007

Elke Heidenreich liest Mascha Kaléko
1 Audio-CD
"Weil du nicht da bist..."
Alltagspoesie. 60 Min..
Gelesen v. Elke Heidenreich Random House Audio
2005 Random House Audio
Eine Lyrikerin vom Range eines Kästner, Tucholsky oder Ringelnatz
Mascha Kaléko wurde 1912 als Tochter jüdischer Einwanderer geboren und fand in den zwanziger Jahren Anschluss an die literarische Bohème Berlins. In der Nazizeit zwangsemigriert, konnte sie nach dem Krieg nie wieder an ihre Erfolge als Schriftstellerin anknüpfen und starb 1975 in Zürich. Mascha Kaléko wird zur Zeit in Deutschland wiederentdeckt: ihre Gedichte sind unverkrampft und zugänglich - 'Gebrauchspoesie' für den Alltag. Die von Elke Heidenreich zusammengestellte Auswahl von Gedichten entstammt den Büchern 'Das Lyrische Stenogrammheft', 'Verse für Zeitgenossen', 'Die paar leuchtenden Jahre' und 'In meinen Träumen läutet es Sturm'.


Alle Kaléko-Texte dieser Langen Nacht stammen aus folgenden Buch-Ausgaben:

Mascha Kaleko
Das lyrische Stenogrammheft
Kleines Lesebuch für Große
Rowohlt-Taschenbuch, 1959

Mascha Kaleko
Verse für Zeitgenossen
Rowohlt-Taschenbuch, 1980 (aktuell erschienen: 2007)
Mascha Kalékos Gedichte von Liebe, Abschied, Einsamkeit und Sehnsucht sind von jener "aufgeräumten Melancholie", die Thomas Mann an ihr rühmte. Sie sind so zugänglich, weil sie Dinge beschreiben, die wir alle erleben -in Strophen, die ihren Charme einer eigentümlichen Mischung von Aktualität und Musik, romantischer Ironie und politischer Schärfe verdanken.

Mascha Kaleko
In meinen Träumen läutet es Sturm
Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass.
dtv, 1981 (neu erschienen 2007)

Mascha Kaleko
Der kleine Gott der Webfehler
dtv, 1981

Mascha Kaleko
Heute ist morgen schon gestern!
dtv, 1985

Mascha Kaleko
Das himmelblaue Poesie-Album
dtv, 1986

Mascha Kaleko
Ich bin von anno dazumal
dtv, 1987

Mascha Kaleko
Papagei und Mamagei
dtv, 1986

Mascha Kaleko
Tag und Nacht Notizen
Verlag Eremiten-Presse
Düsseldorf MCMLXXXI

Außerdem wurden Zitate verwendet aus:

Irene Astrid Wellershoff
Vertreibung aus dem Kleinen Glück - Das lyrische Werk der Mascha Kaléko
Dissertation, Aachen 1982

Gisela Zoch-Westphal
Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko
Arani Verlag, Berlin, 1987

Horst Krüger
Meine Tage mit Mascha Kaléko
in: "Spötter-dämmerung"
Hoffmann und Campe Verlag,
Hamburg, 1981

Siegfried Krakauer
Die Angestellten
in: "Schriften I"
Suhrkamp Verlag, 1971

Nach meinem Tode (Trauer streng verboten)
Verlass ich diesen elenden Planeten.
Wenn Plato recht hat - Plato ist mein Mann -:
Erst wenn man tot ist, fängt das Leben an.

Kapitel Eins beginnt mit dem Begräbnis,
Der Seele letztes irdisches Erlebnis.
Auf meines freue ich mich heute schon!
Da gibt es keine Trauerprozession.

Kein Lorbeerkranz vom Bund der Belletristen:
Kein Kunstverein hat mich in seinen Listen,
Kein Dichterzirkel... Sagen wir es schlicht:
Gesellig war die sanft Entschlafene nicht.

Der Redakteur, den sie einst tödlich kränkte,
Als er sein Mäntlein nach dem Winde hängte,
Hat ihren Nachruf lange schon gesetzt.
Der schließt: "M. K. war reichlich überschätzt."

Diverse Damen, deren Herren Gatten
Zuzeiten eine Schwäche für mich hatten,
Die werden selbst im Regen Schlange stehen,
Um mich auch wirklich mausetot zu sehen.

Die strengen Richter meiner wilden Jugend
Entdecken der Verstorbnen edle Tugend...
und eingedenk der menschlichen Misere
vergießt so mancher eine Anstandszähre.

Den wahren Freunden - ach, sie sind zu zählen! -
Werd ich vielleicht zuweilen etwas fehlen.
Moral: Was euch im Leben zu mir zog,
Hebt es nicht auf für einen Nekrolog!...