"Alle sind Opfer und Täter zu gleichen Teilen"

Ein Mann zwischen zwei Frauen: Die neue Hausregisseurin am Düsseldorfer Schauspielhaus, Nora Schlocker, inszeniert Gerhart Hauptmanns Familiendrama "Einsame Menschen". Im Interview spricht sie über bürgerliche Lebensmodelle, moralfreies Theater - und den Glauben an die Liebe.
Britta Bürger: Vater und Sohn, Mutter und Schwiegertochter. Sind das die Garanten für ein gelungenes Familienleben? Die Vockerats, angesiedelt auf dem Lande bei Berlin, wollen es jedenfalls in dieser Konstellation versuchen. Und um das gemeinsame Glück noch zu festigen, ist sogar ein Kind geboren worden. Aber Gerhart Hauptmann, der Erfinder dieser Versuchsanordnung, hat darin gemeinerweise einen Katalysator eingebaut, der jedes Glücksstreben zuverlässig zuschaunden macht: Das ist Anna Mahr, eine Studentin, die Johannes, dem jungen Vater, Herz und Kopf verdreht. Bis zur Katastrophe. Johannes Vockerat - zwischen Käthe - seiner liebevollen Frau und Anna der geistigen Wahlverwandten - ein Drama, an dessen Ende eine Familie zerstört ist. Johannes ins Wasser geht - Käthe zusammenbricht und Anna abreist. Soweit das Familiendrama von Gerhart Hauptmann, 1891 in Berlin uraufgeführt und sein "liebstes" Stück.
Die Regisseurin Nora Schlocker war schon mit 24 Jahren feste Hausregisseurin in Weimar - bis zur vergangenen Spielzeit. Jetzt ist sie nach Düsseldorf (ebenfalls als Hausregisseurin) gewechselt. Heute abend kommt ihre Inszenierung von "Einsame Menschen" dort erstmals auf die Bühne. Meine Kollegin Susanne Burkhardt hat mit Frau Schlocker gesprochen und sie als erstes gefragt, was Sie an dieser Geschichte - ein Mann zwischen zwei Frauen - interessiert hat.

Nora Schlocker: Na, ich habe mir erst mal lange überlegt, mit was ich hier anfangen will in Düsseldorf. Das ist ja sozusagen meine Vorstellung hier vor Ort. Und ich finde, auf eine ganz brutale und moderne Weise hinterfragt hier Hauptmann prinzipiell bürgerliche Lebensentwürfe und inwiefern die für uns heute noch Geltung haben. Also, ich finde, man kann es nicht so vereinfachen, dass es hier um einen Mann geht, der sich zwischen zwei Frauen entscheiden will, sondern es geht vielmehr um ein Individuum, was, glaube ich, für sich selbst entscheiden muss, wie er leben will. Und viel prinzipieller, wo Lebensmodelle infrage gestellt werden und auch die Frage gestellt werden muss, muss ich mich überhaupt entscheiden oder inwiefern kann ich alles haben? Und ich glaube, es geht hier sehr stark um die Selbstdefinierung eines Menschen in dieser Welt heute und wie sehr das auch sofort eine Einsamkeit bedeutet in dem Moment, wo man eben nicht mehr bereit ist, sich so einem konkreten Lebensentwurf unterzuordnen.

Susanne Burkhardt: Sie haben ja gerade gesagt, es ist die Frage, ob diese Lebensentwürfe heute noch funktionieren. Aber funktioniert denn auch dieser emanzipatorische Ansatz? Also, die Mehrzahl der Frauen heute ist doch eher wie diese Anna, die sagt, ich mache, was ich will und ich gehe als abenteuerliches Wesen in die Welt und ich entscheide mich für das, was mir Spaß macht.

Schlocker: Also, ich glaube, darum geht es bei uns gar nicht so sehr, sondern es geht vielmehr darum, dass da jemand von außen reinkommt, der definitiv auch aus einer anderen Klasse kommt, also auch was anderes erlebt hat, und diese Kinder – und damit glaube ich für mich Johannes und Käthe Vockerat zu gleichen Teilen – wachküsst. Die hinterfragt beide Identitäten und beide fangen an, über ihre Grenze oder ihre Möglichkeiten hinauszuschauen. Und ich glaube, sogar zu ähnlich großen Teilen. Sowohl Johannes als auch Käthe sind aufgerüttelt und fangen an, sich selber Fragen zu stellen, ob sie sich nicht hier ganz schön selbst belügen beziehungsweise ob sie sich das nicht auch ganz schön bequem gemacht haben in ihrem Rahmen, wie sie jetzt gerade versuchen, mit der Welt klarzukommen.

Und das würde ich jetzt gar nicht erst mal als die beklemmende Ehe wahrnehmen, sondern vielmehr als ein Familienentwurf, wo man relativ satt und auch auf eine Art behütet durchs Leben kommt. Und da kommt plötzlich eine Anna Mahr an und schaut diese Menschen an und sagt, ja, aber seid Ihr denn irgendwie glücklich damit? Und plötzlich – und das ist ja die katalysatorische Fähigkeit von dieser Figur – fühlen sich, glaube ich, diese Figuren auf eine andere Art und Weise gesehen. Es hat jemand keine Angst davor, gewisse Fragen zu stellen. Und ich glaube, Anna Mahr tut es auch nicht mit irgendeinem bösen Hintergrund, das zu sprengen, sie tut es, weil sie nicht anders kann. Sie ist also insofern fast die torhafte Figur in diesem Stück, hat aber so eine Hartnäckigkeit darin, dass diese Figuren plötzlich merken, ja, ich entspreche gar nicht mir selbst, ich bin nicht ich, ich nutze meine Talente nicht aus, wo stehe ich hier eigentlich, ist das nicht alles ein riesiger Kompromiss, und dann anfangen, erste Schritte in eine andere Richtung zu tun, die dann plötzlich aber anfangen, eben gerade diese Bürgerlichkeit unglaublich zu gefährden. Und da wird dann interveniert, da plötzlich wird dann die Mutter kalt, da werden dann plötzlich diverse Bewahrungsmechanismen eingeschaltet, die wirklich unglaublich brutal werden, eigentlich fast bis zum Tod von Anna Mahr, würde ich sagen. Also, ab dem Moment, wo der außenstehende Part hier, der am Anfang auch wohlwollend ausgenutzt wird von allen Beteiligten, ab dem Moment, wo der die Gemeinschaft bedroht, wird der auch dann ganz deutlich zum Sündenbock gemacht. Denn die Gemeinschaft muss um alles in der Welt bewahrt werden.

Burkhardt: Das heißt, bei Ihnen ist Anna Mahr das Opfer und nicht die Käthe, wie bei Gerhart Hauptmann?

Schlocker: Ich glaube, es gibt keine Opfer.

Burkhardt: Es sind alle Opfer?

Schlocker: Ich glaube, alle sind Opfer und Täter zu gleichen Teilen. Also, ich glaube, Anna Mahr ist eine Figur, die in einer sehr, sehr großen Einsamkeit zum ersten Mal in eine Familie kommt, die es noch nie erlebt hat, dass sie sich keine Gedanken darum machen muss, wo am nächsten Tag das Essen herkommt, oder sich ausschließlich mit schöngeistigen Gedanken beschäftigen kann, und die sich hier unglaublich geborgen fühlt erst mal und eigentlich da bleiben will. Der geht es da ganz gut, die will auch nichts kaputtmachen. Und Johannes geht es plötzlich auch gut und Käthe auch. Nur plötzlich, die hat halt einfach keinen Platz. Also, in dieser zurechtgewiesenen Familie existiert die beste Freundin des Ehemanns nicht. Und vielmehr über außen geht eine Definition los, und zwar, wer ist das, was tut die hier, die Leute reden schon. Und es wird auch Käthe, glaube ich, von außen zunehmend eingeredet, dass diese andere Frau sie gefährdet.

Burkhardt: Aber ist nicht heute, im Zeitalter der ungewöhnlichsten Familienkonstellationen, wäre nicht heute der Kompromiss okay: Anna bleibt in der Familie, freundet sich auch mit Käthe an und man lebt irgendwie zusammen?

Schlocker: Ich glaube, das geht einen Moment gut und da identifiziert man sich damit, und ich glaube aber, auch heute funktioniert das nicht so glatt. Also, auch aus der eigenen Erfahrung, das birgt ja unglaubliches Konfliktpotenzial. Also, ich glaube, man redet immer davon, dass wir heute so frei uns so grenzenlos sind, aber das würden wir gerne sein, ich glaube nicht, dass wir da angekommen sind.

Burkhardt: Es geht also in dem Stück einmal um die Sehnsucht nach dem Ausbrechen aus dem Familienleben, aus der selbst gewählten Rolle, zum anderen vielleicht auch um Selbstverwirklichung? Das wäre ja das Thema, wo man sagen könnte, das bezieht sich sehr stark auch auf heute.

Schlocker: Auf jeden Fall. Es geht sehr stark um Selbstverwirklichung und überhaupt um die Frage, wer bin ich überhaupt.

Burkhardt: Und die Frage, was nehme ich dafür in Kauf, um etwas zu ändern?

Schlocker: Ja, und wie sehr halte ich daran fest und vor allem – das ist ja das Interessante und ich finde, da ist Hauptmann auch absolut moralfrei und das ist das Schöne daran –, zu welchem Preis darf ich mich selber verwirklichen, und ist es wichtiger, dass ich sagen kann, ich bin ich, auch zu Kosten, dass ein anderer Mensch daran kaputtgeht? Und zwischen dem Konflikt oder in diesem Konflikt zerbricht Johannes Vockerat schlussendlich.

Burkhardt: Nach der Premiere von Michael Thalheimers Inszenierung von "Einsame Menschen" hieß es in einer Kritik in der "Süddeutschen Zeitung", die Zeiten werden wieder härter, also bürgerlicher. Gerhart Hauptmanns psychologisches Weltanschauungsstück von 1891 muss Armani tragen, um heutig wirken zu können. – Stimmt das, muss sich das Drama ans Heute heranbiedern, um überhaupt noch zu funktionieren?

Schlocker: Ich glaube, überhaupt nicht. Also, ich fand es wahnsinnig spannend bei den Proben schon, dass ich das Gefühl hatte, das ist so nah an mir dran, die ganze Zeit. Und ich liebe diese Familie auch am Anfang, ich identifiziere mich mit ihr absolut, bis sie mir wegrutscht und plötzlich zu sehr gefräßigen, egoistischen, ängstlichen Tieren werden in diesem Stück. Und wir versuchen, das auf eine Art sehr zeitlos anzulegen.

Burkhardt: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der neuen Hausregisseurin am Düsseldorfer Schauspielhaus, mit Nora Schlocker. Dort hat sie Gerhart Hauptmanns Familiendrama "Einsame Menschen" inszeniert, heute Abend ist die Premiere. Frau Schlocker, man kann "Einsame Menschen" auch auf die einsamen Menschen reduzieren, also nicht nur als Familiendrama, also auf Menschen, die unfähig sind, das Richtige zu tun, die in ihren Lebenszwängen gefangen sind, und auch auf das Problem der Einsamkeit und Sprachlosigkeit mitten in so einer engen Gruppe von Bezugspersonen, also bis hin zur eigenen Familie. Könnte man dann nicht auch sofort die Parallele zu Tschechow sehen und Tschechow inszenieren?

Schlocker: Ich finde, diese Figuren kämpfen verbissener auf eine Art. Die Einsamkeit, die Sie gerade beschreiben und schön beschreiben, die tritt, glaube ich, erst im vierten Akt ein, frühestens. Davor arbeitet sich Hauptmann ja vielmehr an dem Thema ab: Bin ich einsam, wenn ich nichts glaube, und an was kann ich glauben, damit ich nicht einsam bin heutzutage? Und da gibt der Vater dem Sohn, legt er ihm Gott nahe. Das funktioniert für Johannes nicht, Johannes versucht, an andere Dinge zu glauben, in der Philosophie, an der Naturwissenschaft hält er sich fest. Und ich glaube, die große Frage, die eigentlich dieser Abend auch stellt, ist eben, an was glaube ich und inwiefern beheimatet mich das in dieser Welt, und glaube ich schlussendlich eben dann doch nur an mich selbst oder vielleicht an so was wie Liebe, was ja auch dann noch eine Alternative ist in diesem Stück.

Burkhardt: Aber an die Familie glaubt man nicht mehr?

Schlocker: Ich persönlich glaube sehr an die Familie, aber nicht an die Familie im ursprünglichen Sinne. Und diese Familie an diesem Abend kann, glaube ich, von ihrem bürgerlichen Entwurf der Familie nicht abgehen, keinen Abstand nehmen.

Burkhardt: Sie haben einmal gesagt, Frau Schlocker, ich habe schon eine Wut mit der Welt, aber das hat nichts mit Österreich zu tun, wo Sie herkommen, ich sehe gerade in meiner Generation so ein Bedürfnis nach Rückzug aus der Gesellschaft, ich frage mich, wohin dieses Bewusstsein von Gesellschaft, von Verantwortung für die Welt versinkt.

Ist denn Theatermachen für Sie ein Weg, Ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, ihr eine Stimme zu geben?

Schlocker: Auf jeden Fall. Also, es wird in diesem Stück ja auch die Frage gestellt, inwiefern ist Kunst Luxus, inwiefern ist es eine Schande heutzutage, Luxusarbeiter zu sein? Das sagt Anna Mahr oder stellt es zur Debatte zumindest. Und ich habe da natürlich für mich persönlich eine ganz konkrete Antwort darauf: Also, ich glaube da natürlich sehr dran, also, an diese Form von Möglichkeit, einen Spiegel zu zeigen. Und ich glaube auch gerade an so eine Drastik auf einer Bühne. Weil sie zumindest bei mir selber, wenn ich das sehe im Theater oder mir im Film das begegnet, das in mir immer einen Motor anschmeißt oder vielleicht gerade diese Wut tangiert, dass ich dann unten denke, das kann doch nicht wahr sein, das kann doch nicht alles sein. Und ich glaube gerade, dass ich versuche, mit meinem Theatermachen Menschen zu aktivieren im Kopf, egal, ob sie dann wütend oder traurig oder wie auch immer sind. Hauptsache, sie langweilen sich nicht und sie fangen vielleicht in irgendeiner Form an zu denken.

Burkhardt: Ihr Kollege, der Regisseur Stephan Kimmig, der hat an dieser Stelle hier vor einigen Wochen gesagt: Manchmal gibt es Situationen, da helfen die Mittel des Theaters nicht, da muss man zum Beispiel demonstrieren. Sind die Mittel des Theaters letztlich begrenzt, um Leute aufzurütteln, Leute zu aktivieren?

Schlocker: Ich glaube, er hat insofern recht ... Beides schließt sich einfach nicht aus, es braucht beides. Und beides hat, glaube ich, einfach eine unterschiedliche Möglichkeit, an Punkte zu treffen. Und das Tolle am Theater ist ja, dass man Leute auch verführt. Man verführt sie da, sich hineinzubegeben an so einem Abend, sich zu identifizieren, und trifft dann im besten Fall mit Konflikten an eine andere, offenere Stelle des Herzens, sage ich jetzt mal, sodass sich Dinge vielleicht unmerklicher und aber auch emotionaler verschieben können. Und eine Demonstration ist natürlich ein sehr starkes, von außen kommendes, provozierendes Mittel, wo natürlich dann aber auch gewisse Fronten automatisch einen Schritt zurückweichen. Ich glaube, das ist, je nachdem, an welcher Front man kämpft - es braucht beides.

Burkhardt: Frau Schlocker, Sie sind jetzt mit nicht mal 30 Jahren aus Weimar an ein größeres Haus gewechselt, nach Düsseldorf, wieder als Hausregisseurin. Was ist so ganz anders dort in Düsseldorf als in Weimar, wo Sie vorher waren? Sie sind ja jetzt quasi von der Ostprovinz in die Westgroßstadt gewechselt und ich habe mal gelesen, dass Sie in Weimar immer darauf hingewiesen wurden, wenn irgendwas falsch war aus Sicht der dortigen Einwohner, und daraufhin sagten Sie, in Weimar weiß man, was sich gehört. Man könnte jetzt den Eindruck kriegen, dass Düsseldorf für Sie so ein bisschen so eine Befreiung ist jetzt...

Schlocker: In erster Linie muss ich sagen, dass ich erstaunt war, wie wenig Unterschied dann schlussendlich in der konkreten Theaterarbeit passiert ist. Schlussendlich ist ein Theater ein Theater und die Vorgänge an sich beim Proben sind dann doch die gleichen. Und ich glaube, der große Unterschied liegt in den Zuschauern und der Stadt an sich, und das kann ich natürlich jetzt noch relativ schwer beurteilen, weil wir ja noch nie vor Leuten gespielt haben. Aber ich habe hier ein Gastspiel gehabt von einer Inszenierung aus Weimar und da habe ich gemerkt, dass man hier schon noch mal einem anderen Publikum begegnet.

Burkhardt: Was ist anders?

Schlocker: Das hat sicher mit der Geschichte zu tun, also dass wir uns im Westen bewegen. Ich war erstaunt, ich habe danach ein Publikumsgespräch geführt und die Leute sprechen über Theatermittel. In Weimar habe ich das nie erlebt. Also, sie haben auf eine Art ein großes Selbstbewusstsein im Aufnehmen von Theater und auch ein, finde ich, sehr modernes. Man merkt, die sind sehr gebildet, sehr belesen in die Stoffe, in die sie reingehen, sie haben eine große Erwartung an ihr Theater, sind aber sicher auch auf eine Art aufgeschlossener, als das in Weimar der Fall ist. Das glaube ich schon.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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