Alle Schwüre auf der Couch

Von Gerald Beyrodt · 17.09.2010
Die jüdische Tradition hat immer klargestellt, dass das Kol Nidre Schwüre gegenüber Gott löst und Selbstverpflichtungen, nicht die Verträge mit anderen Menschen. Für viele Juden ist das Kol Nidre der bewegendste Moment im Jahr. Der Frage, wieso die trockene Formel so bewegend ist, ging der Freudschüler Theodor Reik Anfang des 20. Jahrhunderts nach.
Der jüdische Psychoanalytiker Theodor Reik wunderte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts: Wie kann eine liturgische Formel die Eide lösen und den Vertragsbruch gegenüber Gott sanktionieren, wo doch die jüdische Religion die Eide besonders wichtig nehme? Ein Widerspruch – und gerade der Widerspruch interessiert ihn. Juden an Jom Kippur verhielten sich wie der kleine Junge in der folgenden Geschichte, schreibt Reik.

Zitat (Seite 158):
"Der kleine Arthur, drei Jahre alt, (…) wurde einmal bestraft, weil er trotz wiederholter Ermahnungen der Mutter immer wieder Geschirr aus der Küche abräumte und zerschlug. Die Mutter fragte nun das weinende Kind: ‚Willst du brav sein.’ Schluchzend brachte es die Antwort heraus: ‚Der Bubi will schon brav sein ... aber der Bubi kann nicht brav sein.’ Dieses aufrichtige Eingeständnis in seiner unbefangenen und unnatürlichen Gegenüberstellung zweier einander widerstreitender Tendenzen, sieht es nicht wie das infantile Gegenstück der Kolnidreformel aus?"

Wie einen zwangsneurotischen Patienten legt Theodor Reik die jüdische Religion auf die Couch. Unstimmigkeiten und Widersprüche will der Therapeut nicht glätten, sondern als Schlüssel zum tieferen Verständnis betrachten.

Im Leben dieser Kranken, welche so skrupelvoll und übergewissenhaft auf ihre Eide und Versprechungen achten, kommt ein Moment, in dem sie mit dem ganzen, ihnen auferlegten Zwang aufzuräumen versuchen und ihre Eide und Versprechungen im vornherein als ungültig erklären.

Wir würden sagen, solche Aktionen dienen gerade der Durchsetzung der verpönten Regungen, zu deren Durchsetzung sie ursprünglich entstanden sind (Wiederkehr des Verdrängten aus dem Verdrängenden) sie dienen aber zugleich dem einzelnen zu seiner Erleichterung von der Bürde seiner so großen Gewissenhaftigkeit.

Im Jahr 1919 veröffentlichte Theodor Reik seinen Aufsatz "Die Stimme der Gelübde" über das Kol Nidre zusammen mit anderen Aufsätzen über jüdische Religion und einer Vorrede seines Lehrers "Professor Doktor Sigmund Freud".

Theodor Reik nimmt immer wieder Bezug auf Freud. Immer wieder tauchen Begriffe aus dessen Werk auf: etwa latente Inhalte. Latente Trauminhalte sind bei Freud erst nach eingehender Deutung zugänglich, weil sie auf Verdrängtes und Verleugnetes zurückgehen - auf Regungen, die sich der Träumende nicht gerne eingesteht.

Analog dazu möchte Reik den latenten Inhalt des Kol Nidre aufdecken.

"Wir erkennen jetzt, dass die Formel den Charakter des Wunsches trägt. Die Gemeinde spricht den Wunsch aus, die Eide Gelübde und Versprechungen zu brechen, auf deren sorgfältigste Einhaltung sie sonst großes Gewicht legt (…) Übersetzen wir den Wunsch dann in eine uns allen verständliche Sprache, dann müssen wir den Aufruf an Gott vorausschicken: Herr, Jahwe, höre uns, wir bekennen dir, dass wir den Wunsch fühlen, Eide, Gelübde etc. nicht einzuhalten, oder: Sieh, wir bekennen dir, wir sind eine Gemeinde von Meineidigen. (…) Die hohe seelische Spannung, die Zerknirschung der Gemeinde bei dieser nüchternen Zeremonie beziehen sich nicht auf den tatsächlich in ihr vorliegenden, sondern auf den latenten Inhalt der Formel."

Für Reik ist das Kol Nidre sogar eine "Gotteslästerung". So weit muss man nicht gehen und sicher muss man nicht von jüdischer Religion wie von einer psychischen Erkrankung sprechen. Schwer bestreiten lässt sich hingegen: Im Kol Nidre schwingt die Lust am kalkulierten Eidbruch mit und die Erleichterung, an allzu strenge Selbstverpflichtungen nicht mehr gebunden zu sein.