Alle in ihrem Boot

Rezensiert von Joachim Scholl |
Was ist ein "Nassbiber", wie hat man sich eine "Eskimo-Rolle" vorzustellen, und wo gluckert ein gewisses "Kehrwasser"? Gar kein Problem sind diese Begriffe für eine Gruppe von Engländern in den italienischen Alpen.
Es sind Kajaksportler, die mit Begeisterung reißende Stromschnellen befahren, in schäumendem "weissen Wasser". Für eine Woche ist man zusammengekommen, eine bunte Truppe aus Jugendlichen und Erwachsenen eines Londoner Sportclubs, verschiedene sportliche Übungen und Prüfungen stehen auf dem Programm, als krönender Abschluss ist eine Bootstour auf einem besonders schwierigen Flussabschnitt geplant. Der Kurs wird geleitet von Clive und seiner jungen italienischen Freundin Michela. Beide sind fanatische Globalisierungsgegner und verstehen ihren Sport als Appell gegen die Umweltzerstörung.

Gerade kommen sie von einer gewalttätigen Demonstration aus Mailand zurück, ein Erlebnis, das den knorrigen Naturburschen Clive zusätzlich radikalisiert. Von dieser Spannung wird Michela auf drastische Weise ergriffen, aber auch mancher Teilnehmer, zum Beispiel der 50-jährige Bankier Vince, der mit seiner Tochter Louise anreist und natürlich ganz andere politische Gedanken hegt. Vince steckt selbst in einer tiefen Lebenskrise, er muss den plötzlichen Tod seiner Ehefrau verkraften und flieht buchstäblich in die extremen Erfahrungen auf dem Wasser. Und so schält sich jenseits des Sports und seines Jargons vom "Nassbiber" et. al., der Camping-Albereien der Teenager und vieler Flusskapriolen, ein existenzielles Drama heraus, in dem Clive, Michela und Vince die Hauptpersonen sind und für einen verblüffenden Höhepunkt sorgen.

Nach seinen auch in Deutschland gefeierten Erfolgsromanen "Schicksal" (dt. 2001) und "Doppelleben" (2003) hat der mittlerweile 51-jährige, in Verona lebende Tim Parks erneut einen überaus spannenden Roman geschrieben und seine eigene, späte Leidenschaft für den Kajak-Sport in packende Literatur verwandelt. Nichts sei so aufregend, schrieb der Autor in einem Zeitungsessay, wie durch Stromschnellen zu rasen, "with a wonderful rush of adrenaline". Dort, auf dem Wasser, muss der Romancier wohl die literarische Dimension des Themas erkannt haben: Ein Mensch allein in einem winzigen Boot, sich freiwillig dem Anprall eines wütenden Elements überlassend, den er nur mit Nerven, Intelligenz und Technik übersteht. Dieses Leitmotiv durchzieht die Handlung und wird über den formalen Aspekt hinaus zur tragenden Metapher für den Konflikt zwischen Natur und Zivilisation, zwischen den Ansprüchen des modernen Menschen und seinen Verlusten an Ursprünglichkeit und authentischen Gefühlen.

In allen seinen nunmehr 13 Romanen führt Tim Parks seine Figuren an Krisen- und Scheitelpunkte ihrer Existenz, an die fundamentalen Probleme von Liebe und Sex, Krankheit und Tod. In einem klaren, unprätentiösen Stil durchstreift er die komplizierten Seelenlagen von scheinbar normalen, meist bürgerlich wohl etablierten Menschen, nur allzu oft erkennt man sich darin wieder. Im aktuellen Fall mag ein skeptischer Betrachter nun fragen, ob es ihn wirklich interessiert, in Abgründe zu blicken, die hauptsächlich aus Wasser bestehen. Sind diese Kajak-Freaks nicht sämtlich Spinner, vom westlichen Luxusdasein gelangweilte Protagonisten, die ihren Kick im Extremsport suchen? An einer Stelle des Romans gibt Michela darauf Antwort: "Solche Sportarten sind Sachen, die man macht, anstatt zu leben." Es ist die Beschäftigung von Hunderttausenden, 260 dieser Disziplinen - erfährt man nebenbei - soll es inzwischen geben. Und Tim Parks ist der erste Schriftsteller, der beweist, welch großartige Literatur man daraus machen kann.

Tim Parks: Weisses Wasser
Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Becker
Verlag Antje Kunstmann 2005
271 Seiten
20,50 Euro