Alle Gleise führen nach Paris

Von Jürgen Bräunlein · 22.09.2006
Damals war er der schnellste Zug der Welt. Der TGV wurde am 22. September 1981 von Staatspräsident Francois Mitterrand in Dienst gestellt. Seine Höchstgeschwindigkeit: 260 Kilometer in der Stunde. Heute schafft der französische Schnellzug 320 Stundenkilometer und fährt als Thalys auch nach Brüssel, Amsterdam und Köln.
Lange Zeit wollte ihn niemand so richtig haben. Den französischen Hochgeschwindigkeitszug TGV - "Train à grande vitesse". Mehr als 15 Jahre mussten vergehen, bis aus der Utopie Realität wurde. Die ersten Überlegungen begannen 1967. Die französische Staatsbahn verlor immer mehr Kunden. Reisende schafften sich ein Auto an oder stiegen aufs Flugzeug um. In der Luftfahrt sprach man vom Überschalljet Concorde. Die Eisenbahner tüftelten am Projekt eines Schnellzugs. Dafür wollte man Gleise bauen, die sich schnurgerade und mit einem Minimum an Überführungen durchs dünn besiedelte Land ziehen. Man wählte die Strecke Paris-Lyon, damals die meist befahrene Schienentrasse Frankreichs. Doch die Widerstände waren enorm.

"Hierzulande braucht doch niemand rasende Manager-Kutschen für gehetzte Leute","

spöttelte die französische Presse. Auch Valery Giscard d’Estaing, damals Frankreichs Finanzminister, verweigerte zunächst die Unterstützung. Erst spät hielt die Regierungskommission das Projekt TGV überhaupt für wirtschaftlich interessant. Um die neue Trasse wie geplant verlegen zu können, musste mit Tausenden von Grundstücksbesitzern verhandelt werden. Nur mühsam wurden Kompromisse gefunden: Die berühmten Weinanlagen des Chablis wurden etwa großzügig umfahren. Um eine alte römische Straße unversehrt zu lassen, baute man eine zusätzliche Brücke.

Am 22. September 1981 ist es endlich soweit. Der südliche Teilabschnitt der neuen Strecke wird eingeweiht - die Trasse zwischen Saint Florentin und Lyon. Vor Hunderten von Schaulustigen setzt sich der TGV in Bewegung. Am Steuer: Staatspräsident Francois Mitterrand.

""Als Sohn eines Bahnhofsvorstehers bin ich hier ja richtig","

scherzt er vor Journalisten. Der neue Hochgeschwindigkeitszug ist 200 Meter lang und von extravaganter Schönheit. Zwischen den beiden delphinförmigen Triebwagen vorne und hinten sind die Passagierwagen in den Farben Blau und Orange aufgehängt. 386 Reisende finden Platz. Schon nach fünf Minuten erreicht der Zug auf dieser Strecke seine damalige Höchstgeschwindigkeit von 260 Stundenkilometern. Im Abteil selbst spürt man das hohe Tempo nicht, aber man sieht es, wenn am Fenster die Landschaften vorbeiziehen und sich zu Farbimpressionen verwischen. Kurz vor Lyon mündet der neue Schienenweg dann in das alte Netz. Für den TGV sind solche Gleiswechsel kein Problem, so Lucien Lecanu, Mitglied der französischen Eisenbahngewerkschaft:

""Der Hochgeschwindigkeitszug bedient natürlich die Schnellstrecken, aber die Technik wurde so ausgelegt, dass er auch auf anderen Strecken fahren kann. Da wird er dann von einer Diesellok gezogen. Der TGV kann also überall eingesetzt werden. Das prägt die Organisation unseres Schienennetzes."
1983 wird der zweite Streckenabschnitt für den TGV eröffnet: Die Fahrzeit von Paris nach Lyon beträgt jetzt nur noch zwei Stunden. Das ist halb so lang wie in der Zeit vor dem Schnellzug. Der Erfolg lässt nicht auf sich warten: Fluggesellschaften und Autobahnen büßen massenhaft Reisende ein. Der TGV ist schneller, bequemer und auch billiger. Bereits 1989 haben sich die Kosten für die Trassen und die Entwicklung der Züge amortisiert - damals über elf Milliarden Francs. Neue Strecken für den TGV kommen hinzu: von Paris aus in den Westen des Lands, nach Tours und Le Mans, 1994 eine Verbindung nach London. Frankreich ist zum Musterland des modernen Schienenverkehrs geworden: Wie ferngesteuert flitzen die Züge durchs Land. Die Zentrale in Paris lenkt alle Bewegungen auf den Gleisen. Ein TGV-Lokführer erklärt:

"Der Lokführer könnte bei dieser Geschwindigkeit Signalanlagen außerhalb überhaupt nicht erkennen. Deshalb kommen alle Informationen direkt in die Zugkabine. Ähnlich wie im Flugzeug können wir mit 300 Sachen im Nebel fahren. Alles was der Lokführer beobachten muss, wird ihm ins Führerhaus überspielt."

Der TGV ist heute der erfolgreichste Hochgeschwindigkeitszug Europas und erreicht im Regelbetrieb bis zu 320 Stundenkilometer. Als Thalys fährt er von Paris nach Brüssel, Amsterdam und Köln. Dort kann man dann in den InterCityExpress umsteigen, den Hochgeschwindigkeitszug made in Germany und das Flaggschiff der Deutschen Bahn AG. Seit 1991 sind die ICEs in Betrieb. Die französischen Eisenbahner aber haben schon wieder eine neue Vision: Von ganz Frankreich aus sollen Hochgeschwindigkeitsstrecken sternförmig auf Paris zulaufen.