Alle Dramen sind Familiendramen

Die Geschichte des Paares Ariah und Dirk Burnaby erzählt die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates in ihrem neuen Roman aus der Sicht ihrer Kinder. Sie decken das Unrecht auf, das an ihrem Vater begangen wurde. Oates verbindet Themen wie Umweltpolitik und kommunale Korruption mit denen von Familie und der Vorbestimmtheit des Menschen.
In "Niagara", ihrem neuen, sehr umfangreichen Roman, erzählt die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Familie Burnaby zwischen 1950 und 1978. Joyce Carol Oates benutzt die Szenerie der berühmten Wasserfälle für ihre Geschichte von Tragik, Glück, politischem Engagement und politischer Verantwortungslosigkeit.

In Niagara Falls verbringen zunächst einmal Ariah und Gilbert Erskine ihre Hochzeitsnacht. Ariah, eine Pastorentochter und Gilbert, ein bleicher Pastor. Als die Braut erwacht, fehlt vom Bräutigam jede Spur. Auf den ersten knapp hundert Seiten entwickelt Joyce Carol Oates das Psychogramm dieses Paares, das sich in vielem aus der Herkunft aus einer in den Konventionen des pietistischen Amerikas erstarrten Klasse ergibt. Wie sich herausstellt, hatte Gilbert seine Homosexualität zu verleugnen versucht. Seine Flucht zu den Wasserfällen und die Zeit bis zum Auftauchen der Leiche erzählt Joyce Carol Oates wie einen atemberaubenden Krimi.

Die verlassene Ehefrau Ariah erlebt diese Zeit wie in Trance und nimmt nicht wahr, dass der Anwalt Dirk Burnaby sich in sie verliebt. Das ungleiche Paar wird heiraten, glücklich sein, er, ein weltzugewandter Mann aus reicher Familie, sie eine verschlossene liebeshungrige Frau.
Joyce Carol Oates erzählt den Roman aus der Perspektive der fünf Burnabys: Ariah, Dirk und ihren Kindern Chandler, Royall und Juliet. Mit dem refrainhaft eingesetzten Zitat "Schande, Schande. Wisse deinen Namen", das einem Bibelpsalm ähnlich ist, wird das Schicksal angedeutet. Die Versuchung tritt in Gestalt einer jungen Frau an Dirk Burnaby heran. Die Mutter eines an Leukämie verstorbenen Kindes will mit anwaltlicher Hilfe gegen das ortsansässige Chemie-Unternehmen klagen.

Dirk Burnaby verrennt sich in einen Prozess gegen den mächtigen Konzern. Niemand will ihn verstehen, Ariah schmeißt ihn raus, die Kollegen, die Stadtverwaltung, alle wenden sich gegen ihn. Joyce Carol Oates zeigt das korrupte Verhalten der Einflussreichen in einer prosperierenden Touristen- und Industriestadt.

"Letztlich sind alle Dramen Familiendramen", schreibt Joyce Carol Oates, die mit "Niagara" einen sehr gelungenen Roman geschrieben hat. Das liegt nicht nur an der Umweltsünden-Thematik und dem Einblick in die kommunale Korruption. Joyce Carol Oates zeigt die unterschiedlichen Charaktere ihrer Personen, ihre bigotte Schicksalsergebenheit in die Unausweichlichkeit eines Familienfluchs und schließlich das Aufwachen der Burnabykinder, die das Unrecht, das an ihrem Vater begangen wurde, aufdecken. Das sind die Grundthemen dieses Romans. Sein Überthema ist die mythische Vorbestimmtheit des Menschen.

Rezensiert von Verena Auffermann

Joyce Carol Oates: Niagara.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz.
S. Fischer Verlag. 2007. 567 Seiten. 22,90 Euro.