Allan Jenkins: "Wurzeln schlagen"

Wer sein Leid verstehen will, muss graben

Eine Großaufnahme zweier Männerhände, die eine gelbe Blume ins Erdreich pflanzen.
Manche Pflanzen binden Stickstoff mit Hilfe spezieller Bakterien © Cover: Rowohl; Bild: imago/Westend61; Collage: Deutschlandradio
Von Susanne Billig · 25.04.2018
Ein Garten als Oase im hektischen London: In dieses summende, brummende Idyll zieht sich Allan Jenkins zurück, wenn er niedergeschlagen ist. Er lernt dabei: Wer Kummer hat, muss seine Hände in feuchte Erde senken. Sein Gartentagebuch geht zu Herzen.
Spatzen und Buchfinken huschen über die Zweige, Insekten schweben in der Sonne und in den Beeten gedeihen Primeln, Sauerampfer, Kartoffeln, Bohnen und Studentenblumen. Parzelle 29 liegt in einer Londoner Kleingartenkolonie und gehört Allan Jenkins.
In seinem wunderbaren Buch "Wurzeln schlagen" erzählt der britische Autor jetzt davon, wie ihm dieses Stück Land Trost spendet und ihn erdet. Sobald er aufgewühlt oder traurig ist, und das ist er häufig, fährt er in seinen Garten, schaut dem Blühen und Vergehen zu und senkt seine nackten Hände in die feuchte starke Erde.

Eine verworrene Kindheit

Die Einträge seines Gartentagebuchs führen zurück in Jenkins verworrene Kindheit, zu seiner Mutter, die sich als Teenager haltlos in Bars mit Matrosen einließ und Kinder von so vielen Männern in die Welt setzte, dass sie selbst den Überblick verlor. Sie führen zu einem Mann, den Allan für seinen Vater hielt. Zu einem zweiten Mann, den er danach für seinen Vater hielt und zu einem dritten Mann, hier und heute, denn er aufwendig sucht und von dem er mal hofft, mal befürchtet, er könnte jetzt der richtige Vater sein.
Dieser Mann lebt nicht mehr, doch es gibt eine große Familie. Sind die Fremden nun Brüder und Schwestern? Ein DNA-Test wird anberaumt, dann ein zweiter. Die Ergebnisse widersprechen sich.

Ein Zuhause auf dem Land

Die Tagebucheinträge führen auch zu Jenkins Bruder, der zusammen mit Allan das große Los zog: Pflegeeltern holten sie aus dem Waisenhaus und schenkten ihnen ein Zuhause. Draußen auf dem Land, distanziert, aber freundlich – wenn man sich gut betrug, artig "Danke" und "Bitte" sagte und nicht etwa in die Pubertät kam, Gefallen an Mädchen fand oder heimlich rauchte.
Und weil eine Pflegschaft keine Adoption ist, wurden die Kinder zurückgegeben – der Bruder zerbrach daran.

Pflanzen als Hüterinnen der Seele

Immer wieder wandert Allan Jenkins im Tagebuch in den Garten und schildert minutiös vom Graben, Jäten, Säen und Bewässern, jeder Schritt Halt und Sinn. In seinen wunderbar zarten und immer auch zum Leben entschlossenen Beschreibungen werden die Pflanzen zu Hüterinnen seiner Seele, ihre Wachstumsfreude und der Flaum auf ihren Blättern, die Tapferkeit, mit der sie Schnecken und Wettern trotzen.
Was immer geschieht in dieser turbulenten Zeit von Jenkins Suche nach seinen Wurzeln – denen, die Versagen und Tod gekappt haben, und denen, die vielleicht neu wachsen, der Garten bleibt.

Zu Herzen gehend

In diesem Buch, das ans Herz geht, ohne in den Kitsch abzugleiten, gibt es auch Fotos: Auf ihnen sieht man mal Allan und sein Bruder, zwei kleine blonde Jungen mit scheuem Lächeln, oder den Autor als sanften Hippie mit Lederschmuck und schulterlangem Haar.
Und schnell versteht man: Wer sein Leid verstehen möchte, muss tief graben, muss fragen und weinen, in die Hand nehmen, anschauen, bis es schmerzt – und die Hand wieder öffnen.

Allan Jenkins: Wurzeln schlagen. Ein Jahr im Garten auf der Suche nach mir selbst.
Übersetzt von Christel Dormagen
Rowohlt Verlag, Reinbek
304 Seiten, 20 Euro

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