Alice Neel in den Hamburger Deichtorhallen

Abgründig, politisch, ungeschönt

Alice Neel: Pregnat Julie and Algis, 1967. Öl auf Leinwand.
Alice Neel: Pregnat Julie and Algis, 1967. Öl auf Leinwand. © Foto: Malcolm Varon, New York © Estate of Alice Neel
Von Annette Schneider · 13.10.2017
Eine echte Entdeckung ist derzeit in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen: mehr als 100 Porträts der hierzulande weithin unbekannten New Yorker Malerin Alice Neel (1900–1984). Sie legen Abgründe psychischer und sozialer Gewalt bloß, dass es einen fröstelt.
Zeitlebens malte Alice Neel nur das Wesentliche: den Menschen in seiner Zeit. Beides zeigte sie stets ungeschönt.
Sie malte Demonstranten, die von der Polizei zusammengeknüppelt werden. Bettler und Hungernde. Weiße, Schwarze und Hispanics. Ihre Nachbarn und Freunde, darunter schwarze Bürgerrechtler, politische Aktivisten, linke Schriftsteller und Kritiker.

Eindringliche Porträts aus Spanish Harlem

Zwischen 1932, als sie nach New York zog, wo sie fast 25 Jahre lang im bezahlbaren Spanish Harlem wohnte, bis zu ihrem Tod 1984, entstanden hunderte eindringliche Menschenbilder, die immer auch Ausdruck ihrer Zeit sind. Streng chronologisch gehängt kann man nun erstmals in Deutschland 120 dieser Arbeiten sehen. Und 120-mal fragt man sich: Wieso wurde die Malerin so lange ignoriert?
"Zum Teil, weil sie eine Frau war und Künstlerinnen vom Establishment ignoriert wurden. Zweitens: Weil sie mit den Kommunisten sympathisierte. Und die meisten Leute, die Kunst sammeln, sind reiche Kapitalisten, denen das vermutlich Unbehagen bereitete. Drittens: Sie lebte sehr lange in Spanish Harlem, und das war eine Gegend, die Wohlhabende nicht besuchten."
So Jeremy Lewison. Der langjährige Sammlungsleiter der Tate London arbeitet seit 2002 als freier Kurator. Und seitdem organisiert er Ausstellungen, die Alice Neel auch außerhalb der USA bekannt machen sollen. Eine Malerin, die man auch ignorierte, weil "sie den Mainstream verweigerte! Und natürlich, weil sie figürlich malte, während das Abstrakte das Sagen hatte: Die 1950er waren die Zeit des abstrakten Expressionismus. Danach kam Pop-Art, dann Minimalismus. Und sie hat immer ihr eigenes Ding gemacht."
Dabei musste die alleinerziehende Mutter zweier Kinder erst einmal für Miete und Essen sorgen. Dann kam das Malen: 1943 etwa zeigt sie in dunklen Brauntönen ihre Nachbarin aus Spanish Harlem, die mit ihren Kindern bettelnd auf der Straße hockt. Hinter ihr trennt ein hoher schmiedeiserner Zaun die Welt der Besitzenden von der der Besitzlosen.

Malerei als politisches Statement

1954 - noch immer herrschen Rassismus und Rassentrennung - würdigt sie auf großem Format den schwarzen Bürgerrechtler und kommunistischen Schriftsteller Hubert Satterfiled. Neel zeigt ihn mit seiner weißen Freundin. Ein politisches Statement. Ebenso wie das Porträt des KP-Führers Gus Hall. Oder das schmerzvolle Bildnis ihrer karibischen Freundin, die schmal und blass auf einem Stuhl sitzt, gezeichnet vom täglichen Überlebenskampf, im Arm ihr krankes Kind. Jeremy Lewison:
"Sie hatte diese fundamentale Überzeugung, dass die menschliche Rasse stets gefährdet war: durch die Entwicklung der Technik und die Art und Weise, wie sie die Menschen bedrohte, sei es durch massenhafte Industrialisierung oder durch die Technisierung des Alltags. Und dass dabei der Mensch vergessen wurde. Und sie war da, um diese Entwicklung aufzuzeichnen: die Brutalität, mit der diese Entwicklung die Menschen in Mitleidenschaft zog."
Diese gesellschaftliche Gewalt spiegelt Alice Neel auch im nackten menschlichen Körper. Etwa in dem Bildnis eines Nachbarn, eines Tuberkulose-Kranken, der ausgemergelt im Bett liegt.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Sam Brody: Alice Neel with paintings, 1940.© © Estate of Alice Neel
Und dann gibt es noch ihre Frauenakte! Gleich im ersten Raum hängt ein kleines Bild von 1930: Alice Neel zeigt da ihre üppige Atelierskollegin von vorn und in leichter Aufsicht: Das Fleisch wölbt sich, wirft Ringe, die Brüste hängen auf den Bauch. Der Körper ist nicht erotisch, nicht mythologisch aufgeladen, er ist, was er ist: ein Frauenkörper, gezeichnet vom Leben. Mit gerade einmal 30 Jahren holte Alice Neel damit den seit Jahrhunderten von männlichen Künstlern okkupierten und nach deren Fantasien zugerichteten nackten Frauenkörper zurück - für die Frauen, für die Künstlerinnen.
"Oder die absolut ungewöhnlichen Bilder von Schwangeren, die sie in den 1960ern malte. Kein Maler hat das Thema jemals zuvor gezeigt!"

Abgründe sozialer Gewalt

Nicht weniger ungewöhnlich sind ihre Familienbildnisse aus den 1970ern: Alice Neel legt in ihnen Abgründe psychischer und sozialer Gewalt bloß, dass es einen fröstelt! Da verschwindet eine junge Ehefrau winzig hinter ihrem dominant in den Bildvordergrund drängenden Mann. Oder ein wohlhabendes Paar fläzt sich, voneinander abgewendet und nur mühsam ein Gähnen unterdrückend, auf einem Sofa. Haltungen und absurd anmutende Größenverhältnisse spiegeln hier Machtverhältnisse. Immer häufiger verzichtet Alice Neel dabei auf die Ausarbeitung von Hintergründen, erzählt nichts mehr zu Ende.
All das wirkt ungemein aktuell. Denn ob die Bildnisse linker Aktivisten, arbeitsloser Einwanderer oder sich anödender Mittelklasse-Familien - an den gesellschaftlichen Grundlagen, deren Ausdruck sie sind, hat sich nichts geändert!
Was waren gleich noch die Gründe, weshalb Alice Neel bis vor wenigen Jahren nicht zur Kenntnis genommen wurde?
"Partly because she was a woman and women artists where ignored by the establishement. Secondly: She was communist sympathizer. And she was out of the mainstream."
So frei, so tolerant, so kritikfähig ist die bürgerliche Gesellschaft, dass eine Künstlerin, die erzählt, wie das Leben wirklich ist, erst 33 Jahre tot sein muss, bis man sie endlich zur Kenntnis nimmt! - Möge sich der Name Alice Neel eingraben in die Hirne und die Kunstgeschichtsschreibung!