"Algerien ist die größte nationale Tragödie"

Rudolph Chimelli im Gespräch mit Dieter Kassel · 16.12.2010
"Von Menschen und Göttern" sorgte in Frankreich für einen Zuschauerboom: Der Film thematisiert den Mord an Mönchen in Algerien während des Bürgerkriegs. Ohne das Angerührtsein der Franzosen beim Stichwort Algerien könne er sich einen ähnlichen Erfolg nicht vorstellen, sagt Rudolph Chimelli, langjähriger Paris-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung".
Dieter Kassel: Einer der Kernsätze aus dem Film "Von Menschen und Göttern", der Geschichte der ermordeten Trappistenmönche in Algerien. Über diesen Film habe ich vor der Sendung mit Rudolf Chimelli geredet, langjähriger Frankreichkorrespondent der "Süddeutschen Zeitung" und für eben die auch immer wieder längere Zeit journalistisch unterwegs in Nordafrika und dem Nahen Osten. Chimelli hat den Film in Frankreich, umgeben von vielen, vielen begeisterten Franzosen gesehen, und ich habe ihn deshalb zunächst gefragt, ob er die Begeisterung der Franzosen eigentlich nachvollziehen kann.

Rudolph Chimelli: Es ist mehr Faszination als Begeisterung, denn Frankreich ist ein laizistisches Land mit wenig Kirchgängern, aber es ist ein so starker Film, dass er die Menschen einfach anspricht. Und dann ist das Thema Algerien für Franzosen immer etwas, was alle Glocken läuten lässt. Algerien ist die größte nationale Tragödie, an die sich die meisten Leute erinnern können. Der Zweite Weltkrieg liegt weiter zurück, den haben schon so viele nicht mehr persönlich miterlebt, aber Algerien ist sehr präsent. Und deshalb betrifft und interessiert das die Leute. Der Film läuft nach Monaten noch immer in 13 Kinos in Paris – das allein zeigt, wie groß das Interesse ist.

Kassel: Wie groß war denn 1996 das Interesse an diesem Ereignis, von dem der Film ja handelt, der Ermordung der Mönche?

Chimelli: Gewaltig. Es war das blutige Jahrzehnt Algerien, in dem etwa 150.000 Menschen ums Leben gekommen sind durch Terrorismus und durch Bekämpfung des Terrorismus, wahrscheinlich etwa gleich viele, halb und halb, aber die meisten waren Algerier. Ganze Dörfer wurden abgeschlachtet, es betraf nicht so sehr Franzosen oder andere Ausländer, denn die waren da schon nicht mehr dort. Das, als diese Mönche abgeschlachtet wurden, hat Frankreich getroffen wie ein blutiges Memento an das, was im Unabhängigkeitskrieg geschehen war.

Kassel: Gab es damals – wir reden zunächst immer noch über die Rezeption in Frankreich – damals schon Zweifel daran, dass wirklich diese islamistische Terrorgruppe dahintersteckt? Heute gibt es daran ja große Zweifel.

Chimelli: Das sind mehr als Zweifel inzwischen. Ja, die Zweifel gab es von Anfang an, denn es war bereits im Laufe der Jahre eine Reihe von Büchern erschienen, Enthüllungsbüchern. Abgesprungene algerische Offiziere und Sicherheitsleute hatten geschrieben, wie das wirklich zuging, wie sie benutzt wurden, selber zu massakrieren oder Islamisten als nützliche Idioten zu benutzen. Und es gab also schon kurz nachdem das Massaker bekannt geworden war, Leute, die an der offiziellen Version zweifelten. Heute gilt eigentlich überwiegend die Vorstellung, es seien Sicherheitskräfte gewesen oder Sicherheitskräfte, die sich der Islamisten, idiotischer Islamisten bedient hätten, um dieses Unrecht zu bringen, ein schlechtes Ansehen.

Kassel: Dass das Ganze, das Ereignis von 1996 auch in Anbetracht der algerisch-französischen Geschichte eine große Bedeutung in Frankreich hatte, kann natürlich nicht überraschen – welche Bedeutung hat es eigentlich für Algerien? Da war es ja, so böse das klingt, nur ein schreckliches Ereignis von sehr vielen in dieser Zeit.

Chimelli: Das ist völlig richtig. Die Geschichte, diese Tragödie der sieben Mönche, hat in Frankreich sehr viel mehr Beachtung gefunden als in dem Land, in dem es passierte, und das ist auch heute noch der Fall. Ich könnte Ihnen nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob der Film in Algerien bereits gelaufen ist und wie die Leute dort darüber denken würden.

Kassel: Kommen wir zurück aber zu diesem Film. Sie haben ja schon mich ein bisschen korrigiert, womit ich gerne leben kann, dass die Menschen in Frankreich von diesem Film nicht begeistert sind, sondern fasziniert. Wir haben auch vorhin für all die vielen, die ihn natürlich nicht gesehen haben, ein bisschen darüber mitbekommen, dass dieser Film ja ein Spielfilm ist, kein politischer, er beschreibt die Mönche, er beschreibt, bevor es dann wirklich um die Gewalt geht, dieses Leben. Heißt das, die Menschen, die das in Frankreich im Kino sehen, sind vielleicht auch fasziniert von etwas, was Ihnen ja eigentlich sehr, sehr fremd ist?

Chimelli: Das mag eine Rolle spielen, dafür gibt es auch Präzedenzfälle. In der Filmgeschichte haben andere Streifen, die einen Pfarrer oder einen Geistlichen zur Hauptfigur hatten, große Erfolge gehabt, beispielsweise das "Tagebuch eines Landpfarrers" nach Bernanos war ein Riesenerfolg vor Jahrzehnten. Und natürlich übt die Faszination der seelischen und geistigen Vorgänge in einem Gläubigen für jemanden, der selber nicht glaubt, dem das eher fremd ist, immer ... ist immer sehr stark.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute an dem Tag, an dem der Film "Von Menschen und Göttern" auch in Deutschland in die Kinos kommt, mit dem langjährigen Paris-Korrespondenten der "Süddeutschen Zeitung", Rudolf Chimelli, über die Aufnahme dieses Films in Frankreich, und ich frage mich, Herr Chimelli, ob es nicht noch einen Grund dafür gibt, warum die Menschen so – um nicht dieses Wort zu benutzen – fasziniert sind von diesem Film. In diesem Film sind, und für mich ist das vielleicht das erste Mal so, die Franzosen, um die es geht, nämlich die Mönche die Opfer und nicht die Täter. Glauben Sie, das spielt eine Rolle?

Chimelli: Das spielt eine Rolle. Es ist aber – das sollte man kurz sagen – es ist kein politischer Film. Das Massaker als solches wird nicht gezeigt, das ist ausgespart, und auch zum politischen Hintergrund, zur Schuldfrage, nimmt der Film nicht Stellung. Aber alles, was Algerien betrifft, ist für die Franzosen ungeheuer berührend. Man muss wissen, eine Million Franzosen sind aus Algerien ausgewiesen worden nach der Unabhängigkeit. Eine Million Algerier sind durch die Unabhängigkeitskriege ums Leben gekommen, viel sind inzwischen nach Frankreich gezogen. Jeder Algerier, der in Frankreich lebt, hat Verwandte, die das miterlebt haben.

Da sind die Bindungen und da sind die persönlichen Eindrücke, da sind die persönlichen Emotionen sehr stark. Alles, was Algerien betrifft, betrifft Frankreich. Algerien war für die Franzosen nicht eine Kolonie, wie es die westafrikanischen Kolonien waren, die man abschreiben konnte, war auch nicht einmal so etwas wie Südostasien, Indochina, das war auch weit weg. Algerien war effektiv ein Teil Frankreichs. Es waren drei französische Departements, es gehörte zum Mutterland, und das war etwas ganz anderes. Die Trennung davon war sehr schmerzhaft und war eine Umwälzung, die viele Franzosen bis heute nicht verwunden haben.

Kassel: Ich frage mich dennoch, ob und wie dieser Film denn zu diesem Verwinden beitragen kann, denn man kann natürlich auch ein bisschen eine Relativierung des Ganzen sehen, weil dieser Film stellt natürlich die Mönche in den Mittelpunkt, das Leben, und er berichtet, wenn er ... Sie haben natürlich recht, es ist ein unpolitischer Film, aber die Politik spielt eine Rolle. Er berichtet über Terror, und egal, von wem er ausging, von den Franzosen ja nun in diesem Fall mal nicht.

Chimelli: In diesem Fall sicher nicht. Die Politik ist immer präsent, gerade weil nicht von ihr gesprochen wird. Das macht die menschliche Haltung der Mönche umso stärker, dass sie weder politisch motiviert ist noch sonst wie politisch auszustrahlen versucht. Es handelt sich um Trappisten, das sind schweigende Mönche, die sind keine Missionare. Sie haben nie versucht, jemanden zu konvertieren. Sie leben in enger Symbiose mit dem Dorf, das in der Nähe ist, und sie sind bei allen Leuten beliebt, sie helfen, sie pflegen, sie verteilen – alles das wird sehr geschätzt von den Algeriern. Die Dorfbevölkerung hat das sicher am allerschlimmsten empfunden.

Kassel: Der Film kommt heute in die deutschen Kinos, und Deutschland hat natürlich keine Geschichte, die das Land und die Bevölkerung mit Algerien, mit Nordafrika verbindet. Lassen Sie es ein bisschen auch als Profit jetzt wirken – glauben Sie, der Erfolg wird hier vergleichbar sein? Dahinter steckt natürlich die Frage: Funktioniert der Film auch einfach als filmisches Kunstwerk ohne diesen Hintergrund?

Chimelli: Es ist ein großes Kunstwerk, aber Sie stellen eine Frage, die ich mir selber auch stelle. Ohne das historische Angerührtsein, das die Franzosen befällt, wenn das Stichwort Algerien fällt, kann ich mir eigentlich einen ähnlichen Erfolg nicht vorstellen.

Kassel: Rudolf Chimelli, Frankreich-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung", über die Geschichte hinter und die Rezeption des Films "Von Menschen und Göttern" in Frankreich. Der Film kommt heute auch in Deutschland in die Kinos.
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