Zum Tod von Alfred Grosser

"Ich bin ein echter Franzose"

Alfred Grosser im Jahr 2014 im Bundestag bei einer Gedenkstunde zur Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs.
Alfred Grosser im Jahr 2014 im Bundestag bei einer Gedenkstunde zur Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs. © picture alliance / AP / Michael Sohn
Von Ursula Welter · 08.02.2024
Alfred Grosser galt als intellektueller Wegbereiter und kritischer Begleiter der deutsch-französischen Beziehungen - und als streitbarer Geist. Nun ist der Historiker und Politikwissenschaftler im Alter von 99 Jahren gestorben.
Alfred Grosser: der Mann, der deutsch-französische Geschichte geschrieben hat. Der Mann mit dem spitzbübischen Lachen, dem scharfen Verstand. Der wortgewaltige, freundliche Intellektuelle, dessen Sätze voller Ideenreichtum waren.
Als Sohn jüdischer Eltern wurde Grosser am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren. Zu seiner Emigration nach Frankreich 1933 sagte er später: "Und dann sind wir weg im Dezember 1933. Ich habe schnell Französisch gelernt, war dann normal in der Schule, bekam 1935 den ersten Preis für Französisch und meine Memoiren heißen 'Memoiren eines Franzosen'. Das betone ich in Deutschland immer wieder: Ich bin ein echter Franzose, ich bin kein Deutscher mit französischem Pass."

Ein wichtiger Mittler

Alfred Grossers Deutschland, das war das Deutschland der Nachkriegszeit. "Mein Deutschland" lautet auch der Titel eines der vielen Bücher aus der Feder des Franzosen. Für die Zukunft Deutschlands nach dem Krieg fühlte er sich mit verantwortlich.
"Ich war 1947 zum ersten Mal in meiner Geburtsstadt Frankfurt, aber war damals schon entschlossen über zwei Dinge, die ich gelernt habe, empfunden habe in einer Nacht im August 1944 in Marseille mit falschen Papieren, wo ich dort lebte und unterrichtete an einer katholischen Schule, und die BBC verkündete, dass die alten Leute von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert würden, das war auch der Fall für die Schwester meines Vaters und ihren Mann, und am nächsten Tag war ich endgültig sicher, dass es keine Kollektivschuld gibt."
Reisen, Gespräche, Vorträge in Schulklassen – bis zuletzt war Alfred Grosser ein wichtiger Mittler zwischen beiden Ländern. "In zwei Gemeinschaften werde ich akzeptiert als Mitstreiter, obwohl ich ihr nicht angehöre, als voller Franzose in Deutschland und, auf der anderen Seite, als Atheist im katholischen Frankreich - und das muss ich in Deutschland immer erklären."
In Deutschland geboren, in der Résistance im Widerstand, nach dem Krieg Studium in Aix-en-Provence und Paris, Politik und Germanistik, jahrzehntelang Inhaber des renommierten Lehrstuhls am Institut „Sciences Po“ in Paris, Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Die Liste seines Lebenswerks ist lang.
Alfred Grosser, das war der intellektuelle Wegbereiter und kritische Begleiter der deutsch-französischen Beziehungen - und das war der streitbare Geist, der kritische Beobachter Israels etwa.
Israels Siedlungspolitik - Alfred Grosser nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es um den Nahost-Konflikt ging. "Es ist, weil meine vier Großeltern und meine zwei Eltern Juden waren, dass ich die Vergehen Israels gegen die Grundrechte bitterer empfinde als bei jedem anderen Land."

Von der "Pflicht, gegen die Werte von Hitler zu kämpfen"

Den Schülern, den vielen Schülern, vor denen er sprach, gab er regelmäßig mit auf den Weg: "Ich sage immer, die Pflicht, gegen die Werte von Hitler zu kämpfen. Das heißt: Alle Menschen sind gleich, die gleiche Würde, das steht schon im Grundgesetz, und das zum Beispiel auf die Palästinenser anwenden - und das hat mit Antisemitismus nix zu tun."
Auch Frankreichs Politik hat Alfred Grosser stets mit dieser Elle gemessen. Das leidende Frankreich, das seien die Jugendlichen mit den falschen Postleitzahlen, den Einwanderervornamen, die keine Chancen in dieser Gesellschaft hätten – auch für sie setzte sich Grosser ein.
Die Basis – das zählte für den Professor, den Gelehrten. Auch in den deutsch-französischen Beziehungen. "Ich spreche das Wort Freundschaft nie gerne aus, denn wer ist mit wem befreundet?", so Grosser. "Doch gesellschaftlich gibt es mehr Verbindungen zwischen Deutschland und Frankreich auf allen Ebenen, der Anwälte, der Universitäten, der Städte, der Gymnasien als zehnmal, zwanzigmal mehr als zwischen Deutschland und jedem anderen Land und Frankreich und jedem anderen Land. Das genügt nicht, um Europa zu machen, aber diese menschliche Infrastruktur war immer gegenwärtig – auch wenn es politische Krisen gab."
Die menschliche Infrastruktur, darauf setzte Alfred Grosser, nicht auf die Symbole der Politik, die er zudem für falsch hielt. Adenauer und de Gaulle in der Kathedrale von Reims „schön“, Mitterrand und Kohl in Verdun „sehr ergreifend“, Merkel und Sarkozy am Arc de Triomphe am 11. November „schön“. Alles falsch, alles Symbole des Ersten Weltkrieges, so meinte er – "beim Zweiten Weltkrieg hätte man sich in Dachau treffen müssen, wo Franzosen und Deutsche gemeinsam gefangen gewesen waren".
Der Schreibtischstuhl vor der prall gefüllten Bücherwand im Studierzimmer von Alfred Grosser im 15. Stadtteil von Paris bleibt nun leer – Gelegenheiten, sich von einem großen Geist nach anregendem Interview persönlich zu verabschieden, wird es nun keine mehr geben.